Jorge Luis Borges über den Tango

Der Tango machte mit uns, was er wollte, trieb uns herum und auseinander und dann wieder zusammen.“

Jorge Luis Borges, (1899-1986), argentinischer Schriftsteller

(orig. „El tango hacía su voluntá con nosotros y nos arriaba y nos perdía y nos ordenaba y nos volvía a encontrar“)

©KOUTAMARES

Ab einem gewissen Zeitpunkt macht jeder Tangotänzer unweigerlich Bekanntschaft mit diesem Phänomen. Wie alle Süchtige bilden wir uns ein, die Kontrolle über unseren Konsum zu haben, aber die Rechnung machen wir ohne den Wirt! Wir spüren in der Regel nicht, wann es genau passiert, aber irgendwann stellen wir fest, dass wir uns auf einem verrückten Karussell befinden, das einfach nicht anhalten will….

Vor einigen Jahren fasste ich an einem Sommerabend den Entschluss, mir endlich meinen kleinen Traum zu erfüllen, mit dem Tango zu beginnen und recherchierte im Internet nach einer geeigneten Adresse für mich. Auf der Homepage meiner späteren Tangoschule las ich die scherzhafte Warnung: Vorsicht, Tango macht süchtig! Zumindest hielt ich sie damals für einen Scherz. Als erfahrene Hobbytänzerin lächelte ich belustigt über diese Aussage hinweg. „Gute Werbung!“, dachte ich mir. Zwar war mir aus eigener Erfahrung bewusst, wie viel Freude Paartanz generell bereiten kann, aber die Warnung nahm ich dennoch nicht so ganz ernst. – Das war ein Fehler. Die Macht des Tango hatte ich damals total unterschätzt.

Niemand hat diese Machtlosigkeit und den Sog dieser Welt so knapp und treffend in Worte gegossen wie Borges mit diesem Zitat. Ein wahrer Weltliterat. Dass ihm der Literatur-Nobelpreis verwehrt blieb, tut seinem Ruhm keinen Abbruch. Wie der Tango ist und bleibt Borges unsterblich.

Psychische Gewalt am Beispiel des Dating-Phänomens „Stashing“

Im Studium der Kriminologie habe ich gelernt, mich mit Verhaltensweisen zu befassen, die strafrechtlich relevant sind, wie etwa Delikte gegen das Eigentum, die körperliche Integrität, das Leben oder die Freiheit. Aus fachlicher aber auch privater Sicht interessieren mich jedoch besonders die Erscheinungsformen psychischer Gewalt, also moralisch verwerfliche Verhaltensweisen, die zwar nicht ahndbar sind, aber der gesundheitlichen Integrität eines Menschen auf seelischer Ebene nicht minder schaden. Deshalb verwende ich im weiteren Verlauf dieses Essays bewusst auch die Begriffe „Täter“ und „Opfer“, selbst wenn diese Verhaltensweisen keine illegalen Akte darstellen. Damit möchte ich für das Leid der Betroffenen sensibilisieren.

„Ghosting“ beispielsweise ist zunehmend bekannt. Es beschreibt das Phänomen in einer Beziehung, wozu auch die Datingphase gehört, bei dem eine Person ohne Vorankündigung und auf unangemessene Weise abrupt den Kontakt zur anderen Person abbricht und die Kommunikation komplett einstellt. Es erfolgt kein Abschied, keine Erklärung und keine Aussprache. Nachrichtenanfragen und Anrufe werden rigoros ignoriert. Auf eine Erklärung wartet der Betroffene meist vergeblich. Wenn sich die Verbindung zuvor in einer hoffnungsvollen, d.h. romantischen oder freundschaftlichen Entwicklungsphase befand, ist für den Betroffenen der plötzliche Rückzug in der Regel sehr schmerzhaft, denn dieser quält sich meist lange Zeit nach Kontaktabbruch noch mit offenen Fragen und Selbstzweifeln.

Stashing

Ein anderes, aber nicht weniger verbreitetes Phänomen in der Annäherung zweier Menschen ist das sog. „Stashing“. Der Begriff stammt ebenfalls aus dem Englischen und bedeutet übersetzt soviel wie „verstecken“ oder „verstauen“. Er beschreibt eine Beziehungskonstellation, bei der eine Person eine andere, mit der sie freundschaftlich und/oder romantisch interagiert, vor ihrem eigenen Umfeld verheimlicht und sie darüber hinaus dahingehend manipuliert, das Versteckspiel zu erdulden oder gar zu unterstützen. Das Stashing weist üblicherweise ein Machtgefälle mit einer tendenziell stark missbräuchlichen Komponente auf. Die Anstrengungen, die der „Stasher“ betreibt, sind vielfältig.

Hier einige typische Merkmale des Stashings:

  • Es gibt gemeinsame Unternehmungen, aber der Stasher legt großen Wert darauf, den Partner von seinem persönlichen Umfeld wie Eltern, Geschwister und engen Freunden fernzuhalten und keine näheren Einblicke zu diesen Beziehungen zu gewähren. Fragen zum familiären Hintergrund werden meist nur einsilbig beantwortet. Auf eine Einführung in den intimen Kreis wartet der Partner meist vergeblich.
  • Ist eine Trennung der beiden Welten – Beziehung und reguläres soziales Umfeld – nicht komplett möglich, wird der Partner vor dem eigenen Umfeld als platonischer Freund oder Bekannter umetikettiert, selbst wenn die Verbindung in Wahrheit romantischer und inniger Natur ist.
  • Der „Tatort“: Wohnt der Stasher in einer WG zusammen mit Freunden oder in der Nähe seiner Eltern, bleiben Einladungen nach Hause meist aus und der Schauplatz der Beziehung wird auf Cafés, Restaurants, Hotels oder in die Wohnung des Opfers verlegt. Stasher sind hierbei nie um eine Ausrede verlegen (z.B. „Bei dir daheim ist es doch viel gemütlicher.“)
  • Körperliche Kontakte wie Händchenhalten werden am Wohnort bzw. am sozialen Mittelpunkt des Stashers in der Öffentlichkeit vermieden. Aber sobald man mit dem Partner wieder allein ist, darf wieder angefasst werden.
  • Der Stasher gibt sich im privaten Rahmen verliebt und verhält sich teilweise sogar überschwänglich, was – je nach Kontext – auch ein Zeichen für ein kompensatorisches Verhalten für vorheriger Zurückhaltung oder Abweisung sein kann. Er will den Partner bei Laune halten. Aber sobald man diesen Rahmen verlässt und sich gemeinsam in der Öffentlichkeit bewegt, blockt er wieder ab und die Gesprächsthemen werden eher sachlich-nüchtern, um körperliche Zuneigung vonseiten des Partners nicht unnötigerweise zu provozieren.
  • Telefonate erfolgen kaum bis gar nicht oder nur zu vom Stasher festgelegten Zeiten. Damit sollen spontane und zeitlich ungünstige Anrufe generell vermieden werden, um sich vor anderen nicht erklären zu müssen. Ruft der Partner dennoch an, wird der Anruf meist weggedrückt und später durch eine Textnachricht beschwichtigend beantwortet.
  • Das Stashing erstreckt sich in der Regel auch auf die sozialen Medien. So postet der Stasher in der Regel keine gemeinsamen Aktivitäten oder Fotos oder unterlässt es, den Partner bei Gruppenaktivitäten zu taggen. Postet der Partner etwa gemeinsame Fotos auf Facebook, entfernt der Stasher den getaggten Inhalt schnell wieder von seiner Seite und fordert den Partner unter Umständen sogar auf, den Inhalt (z.B. Foto) auch aus seiner Seite wieder zu löschen. Als Vorwand schiebt er beispielsweise die Wahrung seiner beruflichen Integrität vor. Bei einem Rechtsanwalt oder Politiker mag dies vielleicht nachvollziehbar sein, bei einem sonst umgänglich in Erscheinung tretenden Fitnesstrainer wäre ein übertriebenes Beharren auf seine Seriosität wiederum widersprüchlich. Bei Wenignutzern von Social Media wie Facebook und Co. ist das zunächst einmal unverdächtig, wenn diese etwa zurückhaltend im Umgang mit ihren Daten und Informationen sind. Und nicht jeder möchte oder braucht eine neue Beziehung gleich in die Weltöffentlichkeit hinauszuposaunen. Aber wenn die Person ansonsten sehr sozial in Erscheinung tritt und viel über Aktivitäten mit Familie und Freunde postet, ist die Nichterwähnung des Partners nach längerer Zeit zumindest anrüchig.
  • Das Opfer wird in seinem Wunsch, die Beziehung zu outen, oft vertröstet. Beispielsweise sei der Zeitpunkt ungünstig. Der Stasher sei durch andere Umstände wie etwa Beruf gestresst und belastet.
  • Oft wissen auch nach Monaten nur die Beteiligten von ihrer Beziehung. Oder allenfalls das Umfeld des Opfers hat von ihr Kenntnis
  • Nur die wenigsten Stasher formulieren zu Beginn ihre Absicht offen und aufrichtig, die Beziehung auch in Zukunft unverbindlich und geheim halten zu wollen. Der Stasher gibt sich gerne unsicher darüber, was er will. In den meisten Fällen möchte er jedoch keine offizielle und feste Beziehung, weder zu Beginn noch später. Gleichzeitig möchte er auf die Vorzüge einer (Instant-)Beziehung mit dem Opfer nicht verzichten. Eine entsprechende Klarstellung des fehlenden Beziehungswunsches erfolgt jedoch, wenn überhaupt, meist erst zu späterem Zeitpunkt.
  • Wie auch bei strafrechtlich relevanten Gewaltakten, trägt auch hier das Opfer manchmal zu seiner eigenen Opferwerdung (Viktimisierung) bei. Um dem Stasher zu gefallen oder aus Sorge ihn zu verlieren, spielt der Partner oft das böse Spiel unter Wahrung guter Miene bereitwillig und entgegen seiner eigenen Bedürfnisse mit und unterstützt die vom Täter einseitig festgelegte Diskretion, indem er z.B. am heimlichen Treffpunkt wartet. Das Opfer möchte den Partner nicht verlieren und will die ohnehin schon meist verfahrene Situation daher nicht noch mehr verkomplizieren. Aufgrund der emotionalen Abhängigkeit gerät das Opfer dabei unbewusst noch tiefer in eine toxische Abwärtsspirale der ständigen Verleugnung und schmerzhaften Zurückweisung.

Im Anfangsstadium fällt dieser Trend im Verhalten des Stashers nicht sofort auf, weil die meisten Menschen eine Weile abwarten bis sie den neuen Partner dem engsten Umfeld vorstellen. Zudem trägt das frischverliebte Opfer oft die berühmte rosarote Brille. Als verheimlichter Partner, welcher häufig auf eine feste Beziehung hofft, leidet er in der Regel zunehmend unter der Situation, beginnt die Schuld bei sich zu suchen und plagt sich mit Minderwertigkeitsgefühlen und Selbstzweifeln, etwa nicht gut genug für den Wunschpartner zu sein. Womöglich hat man die Beziehung und die wechselseitigen Signale missverstanden.

Die Motive für das Stashing sind unterschiedlich. Insofern machen unterschiedliche Charaktertypen von dieser Methode Gebrauch. Einer der Gründe für das Stashing liegt häufig in dem schlichten Bedürfnis des Täters, unbehelligt und unverbindlich seine Bedürfnisse zu befriedigen (z.B. anregende Gesellschaft, unkomplizierte sexuelle Befriedigung, Bestätigung seiner Person etc.). Der Stasher möchte sich mit diesem Vorgehen meist die Option offenhalten, sich auch mit anderen potentiellen Partnern parallel zu treffen. Nicht selten kommt es zu zeitlichen Überschneidungen verschiedener Romanzen. So neigen häufig auch Narzissten zu Stashing und insbesondere Menschen mit amourös-narzisstischer Persönlichkeitsstörung. Ein einzelner fester Partner kann seinem übermäßigen und pathologischen Bedürfnis nach Bestätigung, die auch sexuelle Bestätigung umfasst, grundsätzlich nicht oder zumindest nicht dauerhaft befriedigen, weswegen die Methode gewisse Vorteile für ihn bietet, sich unbekümmert auszuleben. Dass er die Gesamtsituation obendrein machtvoll kontrolliert, gibt ihm zusätzlich einen besonderen Kick.

Doch es ist nicht nur der selbstbewusste Casanova, der Stashing praktiziert. Ein weiterer Grund kann – genau im Gegenteil – in der Unsicherheit des Stashers begründet liegen. Manche Menschen hegen in einer Beziehung Zweifel, ob ihr Umfeld ihre Partnerwahl akzeptiert. Aus Scham wird der Partner verheimlicht. So vermeidet der Stasher die Konfrontation und läuft nicht Gefahr, mit und über seinen Partner von seinem Umfeld beurteilt oder gar kritisiert zu werden. Der erfolgreiche Zahnarzt schämt sich unter Umständen, sich mit der geringverdienenden und tätowierten Friseurin zu zeigen. Neben vermeintlichen Klassenunterschieden gibt es aber auch kulturelle oder religiöse Gründe, die aus der Sicht des Stashers gegen ein Outing der Beziehung sprechen.

Weil das Opfer das widersprüchliche Verhalten des Stashers nicht einordnen kann und sein Selbstbewusstsein im Laufe der Zeit bereits Schaden genommen hat, sucht es die Schuld ungerechtfertigterweise oft bei sich selbst. Aber es belastet sich nicht nur bereitwillig selbst, sondern wird auch vom Täter zusätzlich belastet: Um sich nicht mit Gewissensfragen auseinanderzusetzen zu müssen, dreht der Täter oft den Spieß um und schiebt seinem Opfer den Schwarzen Peter für den entstandenen emotionalen Vollkaskoschaden zu. Dieses hatte die Konditionen dieser Verbindung ohnehin die ganze Zeit missverstanden, lautet in solchen Fällen notlos das selbstgerechte Urteil des Stashers. Man habe sich schließlich nie formell auf eine feste Beziehung verständigt. Dass der Täter zuvor meist strategisch alles daran gesetzt hat, um die ungeteilte Aufmerksamkeit und das Herz des Opfers zu erlangen, wird im Nachinein entweder bestritten bzw. gar nicht erst zur Debatte gestellt. Nach dem Motto: Selbst schuld, wenn du dich in mich verliebt hast. Dies alles wirkt auf die ohnehin schon in Schieflage befindliche Gefühlswelt des Opfers wie ein zusätzlicher Schlag ins Gesicht, denn ungeniert wird hierdurch zusätzlich seine Urteilsfähigkeit unter Beschuss genommen.

Das Ende solcher Beziehungskonstellationen ist stets vorprogrammiert. In diesem Endstadium hat sich der Täter meist vom Opfer alles genommen, was er wollte (z.B. anregende Gesellschaft, zwischenmenschliche Wärme oder Sex). Zurück bleiben beim Opfer bloß bittersüße Erinnerungen, Schmerzen und mangels „Zeugen“ ist es sich im Laufe der Aufarbeitung nicht einmal mehr sicher, ob diese Verbindung überhaupt je existiert hat oder alles nur Einbildung war (Realitätsverlust).

Das Leid für das Opfer beschränkt sich oft aber nicht nur auf ein vorübergehend gebrochenes Herz. Die Verletzungen sind weitaus gravierender, denn es wurde im Grunde auf allen Ebenen, sowohl als Mensch als auch in seiner sexuellen Identität als Frau oder Mann, im ständigen Wechsel geliebt, ignoriert, torpediert, fallen gelassen, wieder errettet usw. Diese destruktive Dynamik kann in solchen Konstellationen häufig beobachtet werden. Auf der Seele des auf Liebe und Halt hoffenden Opfers hinterlassen diese vielen kleinen und großen Einschläge tiefe Wunden in der Seele, die nur schwer oder zum Teil nie richtig verheilen.

Vor diesem Hintergrund kann bei Stashing bedenkenlos von psychischer Gewalt gesprochen werden. Denn auch wenn sie weder ahndbar noch strafbar ist, verbirgt sich hinter solchen Verhaltensweisen eine beachtliche kriminelle Energie. Dass sie keinen Straftatbestand verwirklicht und auch in keiner Kriminalstatistik erscheinen, ändert jedenfalls nichts am moralischen Unrechtsgehalt und zwar aus folgendem Grund:

Der Mensch ist bekanntlich ein empfindsames und soziales Wesen, welches seine mentale Gesundheit und seinen Selbstwert nun einmal auch durch die Interaktion mit anderen reguliert. Phänomene wie Ghosting, Stashing oder Benching etc. negieren das Opfer in seiner Existenz, seiner Urteilsfähigkeit sowie seinen Rechten, insbesondere in seinem Recht auf Achtung seiner Gefühle und seiner Würde. Die Schädigung seiner emotionalen und seelischen Integrität mag zwar nicht primär vom Täter gewollt sein, aber er handelt auch keineswegs fahrlässig, sondern manipuliert das Opfer und nimmt den Schaden billigend in Kauf, um seine egoistischen Bedürfnisse ohne jedwede Rücksichtnahme zu befriedigen. Dafür spricht das meist planvolle und kreativ-taktierende Vorgehen, welches im Falle des Stashings bei der Verheimlichung des Partners an den Tag gelegt wird.

Begünstigt wird das vermehrte Auftreten solcher Verhaltensweisen durch die Gesellschaft und die moderne Lebensweise. Während in früheren Generationen noch der überschaubare Familien- und Freundeskreis als Orientierung und Energiequelle des Individuums fungierte, übernimmt nun eine eher abstrakte Gesellschaft diese wichtige Aufgabe. Auf Fragen der Partnerschaft bezogen lautet das Credo überspitzt: „Suche den optimalen Partner für dich! Passt er nicht gleich in die vorgefertigte Schablone, wische nach links und checke einfach den Nächsten ab…“ Der Partnerpool wird somit zu einer Art Buffet, auf dem der Einzelne in seinem Menschsein reduziert und gleichzeitig zu einer Art Ware degradiert wird. Dieses (vermeintliche) Überangebot an potentiellen Partnern hat im Grunde jeder, der über ein funktionierendes Smartphone verfügt und zwar jederzeit abrufbar in der Tasche. Dieser Umstand macht die Menschen generell anspruchsvoller, ungeduldiger, oberflächlicher und leider auch roher im Umgang miteinander.

Optimiere deine Zeit! Achte auf deine Work-Life-Balance! Sei immer eine Nasenlänge voraus! Schneller, besser, weiter!

So und ähnlich lauten die modernen Mantren. Wer sich nicht rund um die optimiert und seine Zeit nicht sinnvoll verbringt oder gar verschwendet (z.B. mit dem „falschen“ Partner), gilt schnell als Versager. Der Partner wird so ein Stück weit auch zum bloßen Statussymbol. Das Resultat: Druck. Denn im Zweifelsfall will niemand derjenige sein, der den Gong nicht gehört hat. Das ist schließlich peinlich. Auf Zufälle lässt sich daher kaum noch jemand ein. Es sollte möglichst gleich zu Beginn feststehen, wo der Hase läuft. Man hat schließlich ein Machertyp zu sein, der souverän sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. Das gilt für Männer wie für Frauen. Geduld und Empathie sind bei diesem Triumphzug der Selbstsucht eher hinderliche Tugenden.

Weil der Mensch aber will, was er nun einmal will, gerät er unweigerlich in einen inneren Konflikt. Ist der Partner nicht vorzeigbar und unterstreicht nicht das eigene Ich auf vorteilhafte Weise, wird er – etwa im Beispiel des Stashings aus Scham – kurzerhand versteckt. So entsteht ein Parallelleben abseits vom regulären Sozialleben, welches genauer betrachtet nur eine kleine Blase ist, in welcher die Liebe existieren darf. Mit wahrer Liebe und Mitgefühl hat das jedoch recht wenig zutun. Der Spagat ist jedoch geschafft. Die Beute wurde erfolgreich gefangen und erlegt. Mit dem Befehl und dem Segen der Gesellschaft genießt man, was man hat und setzt nebenher einfach die Suche nach dem „besseren“ Partner fort. Kaum jemand hinterfragt, ob und inwieweit sich die Gesellschaft mit ihren medialen Botschaften in Zeiten von Fakenews und Fremdbestimmung als verlässliche Wertegemeinschaft überhaupt noch qualifiziert.

Aus lauter übereifriger Selbstoptimierung vergessen die meisten Menschen leider, dass der besondere Zauber der Annäherung doch gerade darin liegt, Zeit, Energie und Aufmerksamkeit zu investieren, um einen anderen Menschen und sein Wesen näher zu ergründen, und zwar gerade ohne(!) die Gewissheit zu haben, ob sich der Einsatz am Ende lohnt. Eine Garantie gibt es nicht. Es gibt sie im Grunde nie. Die Erkenntnis und der Einsatz erfordern mehr Kraft, innere Größe und Mut als die meisten Menschen entbehren wollen. Zwanghaft-kontrollierend und rücksichtslos potentielle Partner wie am Fließband zu casten, ist keine große Kunst und auch kein Zeichen besonderer innerer Stärke. Die Kontrolle ein Stück weit bewusst aus der Hand zu geben mit Vertrauen auf sich selbst, d.h. auf das was man mit Authentizität repräsentiert und verkörpert, und mit Vertrauen auf ein wohlwollendes Schicksal, zeichnen vielmehr einen stabilen und geerdeten Charakter aus. Ebenso die Bereitschaft, genauer hinzusehen, sich auf jemanden näher einzulassen, umgekehrt auch Zugang in das eigene Leben zu gewähren und für seine Mitmenschen Verantwortung zu übernehmen. Letzteres umfasst im Mindestmaß die Verantwortung, andere nicht unnötig zu quälen.

Es liegt auch im eigenen Interesse. Denn Opfer des Stahings ist nicht nur der Gestashte. Im Grunde macht sich der Stasher selbst zum Opfer seiner Vorgehensweise, denn er verleugnet nicht nur seinen Partner auf unehrenhafte und schmerzliche Weise, sondern auch sich selbst und beraubt sich letztendlich der Möglichkeit, aus der neuen Bekanntschaft etwas Schönes entstehen zu lassen. Auch wird er durch das krampfhafte Stashen nie das wahre Potential hinter der Beziehung erfahren, da er nicht nur selbst nicht gefühlsmäßig besonders in die Tiefe geht, sondern auch seinen Partner daran hindert, sich in der Verbindung entspannt fallen zu lassen und sich zu entfalten.

Jeder Mensch sehnt sich nach tiefer Verbundenheit und Zugehörigkeit zu einem anderen Menschen. Doch hier bleibt am Ende jeder allein und niemand liebt niemanden.*

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* In Anlehnung an die pessimistische Schlusszeile von Chris Isaaks Lied „Wicked Game“ aus dem Jahr 1989, welche lautet „Nobody loves no one“.

II Tango ist…

…wenn zwei völlig Fremde sich vollkommen akzeptieren, einen kurzen aber einzigartigen Moment jenseits von Raum und Zeit miteinander teilen und selbst in den Pausen zwischen den Musikstücken einer Tanda die Umarmung halten.

©KOUTAMARES

Insbesondere hier in Deutschland beobachte ich auf Milongas oft Tanzpaare, die in den Liedpausen und beim Anspielen der Cortina die Umarmung schnell und teilweise unsanft lösen, ohne dass ein nachvollziehbarer Anlass wie z.B. ein unangemessenes Verhalten eines Partners erkennbar wäre. Nein, das passiert genau genommen auch oder gerade solchen Paaren, die kurz zuvor noch sichtlich Freude mit- und aneinander hatten.

Sie töten diesen wunderbaren Moment und begraben ihn unverzüglich unter belanglosem Smalltalk und albernen Witzeleien. Bloß keine Schwäche zeigen! Die Maske will flott wieder aufgesetzt werden! Nicht dass der Andere noch bemerkt, wie sehr man gerade seine Gesellschaft genießt!

Schwäche – ist nicht vielmehr schwach, wer seine Gefühle leugnet?

Die Lust an der Katastrophe

Das schwere Zugunglück, das sich am 28.02.2023 in Griechenland zwischen Thessaloniki und Athen ereignete, traf die griechische Nation unvermittelt mitten ins Herz. Ein Güterzug kollidierte frontal mit einem Personenzug. Mindestens zweiundvierzig Menschen starben nach derzeitigem Kenntnisstand. Darunter viele Schüler und Studenten, die am Wochenende zuvor Karneval gefeiert hatten. Unter den rund 350 Fahrgästen, die sich im Personenzug befanden, werden gegenwärtig noch viele Menschen vermisst.

Ein Bahnmitarbeiter wurde bereits festgenommen. Dieser steht unter Verdacht, die Gleisen falsch gestellt zu haben. Das elektronische Fahrleitsystem soll schon länger nicht korrekt funktioniert haben, weswegen die Gleisen in dem betreffenden Streckenabschnitt offenbar von Hand gestellt wurden. Die griechische Regierung verspricht umfassende Aufklärung. Der amtierende Verkehrsminister ist bereits zurückgetreten.

Viele Griechen schreien derzeit nach Vergeltung. So wie viele Katastrophen, droht auch diese zum Medienevent zu mutieren. Jeder möchte seine Meinung wie einen „Hut in den Ring werfen“ und promotet diese geradezu zwanghaft, als kämpfe er höchstpersönlich an der vordersten Front des Unglücks für die Wahrheit und Gerechtigkeit.

Aber wieso ist das so? Warum sind die Menschen bei Katastrophen apokalyptischen Ausmaßes geradezu euphorisch?

Katastrophen haben Menschen schon immer angezogen. Deshalb sprechen Psychologen von der sog. „Katastrophenlust“. Die Kenntnisnahme und die gedankliche Auseinandersetzen mit einem Unglücksfall erzeugt im Menschen in erster Linie Angst. Gleichzeitig werden Glückshormone, sog. Endorphine, ausgeschüttet. Dies erscheint auf den ersten Blick paradox, ist jedoch evolutionspsychologisch betrachtet überlebenswichtig, um selbst in auswegslosen Situationen die Handlungsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Hinzu kommt der händeringende Wunsch nach Kontrolle einer außer Kontrolle geratenen Situation. Diese Gefühle entstehen unwillkürlich und dienen, vereinfacht dargestellt, dem eigenen Überleben. Weniger unwillkürlich ist indes der Umgang des Menschen mit seinen Gefühlen.

Durch die öffentliche Auseinandersetzung mit einem Unglücksfall entsteht ein gewisser sozialer Druck im Individuum. In der Konkurrenz- und Leistungsgesellschaft, die man insbesondere in hochentwickelten Zivilkulturen vorfindet, möchte niemand den Anschluss verlieren. Wer nicht zeitnah eine Meinung zu einem bestimmten Ereignis aus dem Ärmel schüttelt und Farbe bekennt, gilt schnell als uninformiert oder desinteressiert. Zu langes Nachdenken ist out. Daher fühlen sich viele Menschen gezwungen, zu einer schnellen Beurteilung zu gelangen, um sich erst gar nicht einem solchen Vorwurf auszusetzen.

Der Schuldige scheint beim vorliegenden Zugunglück für Viele schnell gefunden: der Staat ist schuld, der mit diesen oder jenen Maßnahmen, wie etwa der Privatisierung des Zugverkehrs, überhaupt den fatalen Weg bereitet hat, sodass das in einem wohlgemerkt moderenen technischen Zeitalter Unmögliche auf erschreckende Weise möglich wurde. Mit „dem Staat“ hält man sich bewusst wage. Hakt man in Dialogen nach, wer oder was konkret gemeint ist, ob etwa eine bestimmte Behörde, ein Amt, die gesamte Regierung, der Polizeiapparat oder das Parlament schuld ist, hält man sich mangels Kenntnis der Zusammenhänge oder mangels Mut, seine Überlegungen näher auszuführen, dann doch lieber bedeckt. Und wie genau „Schuld“ definiert wird und wer nach juristischen Maßstäben – ganz konkret – für die zahlreichen Toten und Verletzten verantwortlich ist, interessiert letztendlich fast schon nicht mehr. Durch das Bedürfnis nach Bestätigung konsumiert man im Nachfolgenden ohnehin meist nur noch die Informationen, die den eignenen Standpunkt stützen, welcher wiederum in den meisten Fällen jedoch nicht einmal aus einem eigenständig durchlaufenen und fundierten Meinungsbildungsprozess heraus geboren wurde, sondern oft nur unreflektiert nachgeplappert ist.

Es wird sich – überspitzt formuliert – munter im Rudel empört und gejammert. Während ein Teil der griechischen Öffentlichkeit durch den Unglücksfall tatsächlich emotional kompromittiert ist, schreien andere nur auf, um Teil eines besonderen größeren Ereignisses zu sein oder um das Unglück zugleich zur Kanalisation ihrer Unzufriedenheit zweckzuentfremden, welche ihren Ursprung meist gar nicht in dem Ereignis selbst hat, sondern aus anderen Ereignissen oder persönlichen Lebensumständen rührt. Das Ereignis wird somit zum reinen Aufhänger und zur Projektionsfläche für die eigenen Defizite und Frustration (z.B. durch Misserfolg im Beruf). Zwei Fliegen mit einer Klappe!

Wie viele von ihnen beißen keine 10 Minuten später, nachdem sie sich gekünstelt und lauthals empört haben, tiefenentspannt in die dampfende Tiropita und sind insgeheim froh darüber, dass weder sie selbst noch Nahestehende im Unglückszug saßen?

Wer tatsächlich innerlich erschüttert ist von den Meldungen und den Bildern des Zugunglücks, die um die Welt gehen, benötigt jedenfalls einige Zeit, um einen klaren Gedanken zu fassen und das Geschehene zu bewerten und anschließend zu betrauern.

Teilhabe mag ein verständiches und tief verankertes Bedürfnis des Menschen sein. Dies gilt gleichermaßen für erfreuliche Ereignisse wie z.B. der Fußball-WM wie auch für tragische Ereignisse wie z.B. die Covid19-Pandemie oder 9/11. Die Art der Berichterstattung ermutigt häufig zu dieser Art von Teilhabe, um sich auch künftig Auflagen oder Einschaltquoten zu sichern. Während seriöse Nachrichten-Dienste sachlich zu einem Ergebnis informieren und den Informationskonsumenten zu eigenen Recherchen und Überlegungen ermutigen, kauen andere Anbieter dem Adressaten neben der Information direkt schon vor, wie er etwas zu empfinden und zu beurteilen hat. Oft soll er zielgerichtet emotionalisiert werden. So wird er jedoch unbemerkt ein Stück weit entmündigt und hat kaum die Wahl, welche Themen ihn beschäftigen und wie er sie einordnet, ohne zugleich irgendwo anzustoßen und verbale Prügel zu riskieren. Insofern hat er kaum eine Wahl als sich mitreißen zu lassen und sich wie in einem Automatismus mitzuempören. Mit einem demokratischen Meinungsbildungsprozess hat das jedoch nicht viel zu tun – viemehr ist dieser ochlokratischer Natur.

Inmitten der Informationsschlachten, denen man als Mensch im Laufe seines Lebens pausenlos ausgesetzt wird, ist es umso wichtiger, diese Mechanismen zu erkennen und zu entschlüsseln. Wer mehr als nur „up-to-date“ sein möchte oder irgendwie mitreden will, sondern substantiiert, mündig und empathisch in den Meinungsaustausch treten will, der sollte in diesem und ähnlich gelagerten Fällen mit Respekt vor den Opfern, den traumatisieren Rettungskräften und den bangenden Angehörigen ein Stück hinter den von dem Unglück unmittelbar betroffenen und traumatisierten Personenkreis zurücktreten und die juristische Beurteilung des Unglücksfalls in erster Linie den Experten überlassen.

Im Falle des vorliegenden Zugunglücks sind die Ermittlungen faktisch gerade erst angelaufen. Aber auch Ermittler sind Menschen und spüren den Druck des Öffentlichkeit, welche meist schnell Köpfe rollen sehen will. Dies erhöht die Gefahr, dass Fehler Einzug in die Ermittlungsarbeit finden. Nicht zuletzt ist dies für die Suche nach der Wahrheit höchst hinderlich.

Ist man als Bürger mit den Lebensumständen, die einem von der Politik geboten werden, unzufrieden und hat das Vertrauen in das Funktionieren des Rechtsstaat verloren, so kann man seinem Unmut problemlos an der Wahlurne entsprechend Ausdruck verleihen. Sofern man natürlich den nötigen Mumm aufbringt… Nur sollte man dabei nicht die Toten instrumentalisieren.

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