Tango ≠ Eleganz

Letztes Wochenende wurde im bezaubernden Heidelberg auf einer Milonga eine neue Stilrichtung des Tangos erfunden. Ich taufe sie Pogo-Tango! Ja, richtig gelesen, eine ungesunde Mischung aus dem aus der Punkeszene stammenden Pogo und Tango Argentino, die jede Menge Spaß und blaue Flecke verheißt. Die Milonga war eines der Highlights eines mehrtägigen Tango-Events einer renommierten Tangoschule. Veranstaltungsort war der elegante Königssaal auf dem altehrwürdigen Schloss. Beim Betreten der Location schien alles zunächst super. Man wurde freundlich begrüßt, der DJ sorgte für gute Musik und die Leute waren schick, erwartungsgemäß schicker als bei gewöhnlichen Milongas. Aber abgesehen davon, dass sich die Masse aus Tanzpaaren grob gegen den Uhrzeigersinn bewegte, war von einer geordneten Ronda leider nicht viel zu erkennen. Konzentrische Bahnen? Abstand unter den Tanzpaaren? –Fehlanzeige! Für die Bildung von Bahnen war auf dem großen Parkett zwar genügend Platz. Aber viele Paare tanzten kreuz und quer wo sich gerade eine Gelegenheit bot. Und wenn man gerade keinen Platz für seinen Tatplan seine nächste Figur hatte, wurde eben Platz gemacht. Ob man es unter Ludwig V. dem „Friedfertigen“ auch so krachen ließ?

Beispiel Pogo-Tanz

Auf der Tanzfläche wurde jedenfalls munter gerempelt, geschupst und getreten was das Zeug hält…. Selbst wenn eine Tanda schon so gut wie gelaufen und die Tanzfläche voll war, haben sich Spätentschlossene, ohne sich mit den benachbarten Paaren zu koordinieren, in die Ronda geschmissen wie Kleinkinder in den Bällepool. Selbstzurücknahme? Jemanden um Erlaubnis fragen? Auch mal Andere ungestört ihr Ding machen lassen und die nächste Tanda abwarten? –Nö, man möchte schließlich nicht zu kurz kommen… und erniedrigen will man sich durch zuviel Höflichkeit schon mal gar nicht.

Und auch abseits der Tanzfläche kultivierte man die neue Pogo-Philosophie notlos weiter. Wehe man ruhte sich auf einem Stuhl aus, der schon „reserviert“ war. Da wurde man, selbst wenn dieser mindestens während der letzten 2-3 Tandas nicht genutzt wurde, harsch von Herrenmensch*innen verjagd. Das galt nicht nur für Stühle, die trotz des Vorhandenseins einer überwachten und sauberen Garderobe mit unschönen XXL-Sporttaschen, Jacken, Trekkingrucksäcken, Straßenschuhen und anderen Stolperfallen blockiert waren, sondern auch für Stühle, die sichtbar keine persönlichen Gegenstände aufwiesen und somit frei waren, aber in deren Nähe auf dem Tisch eine Brille abgelegt war. Wie? Etwa nicht gewusst? Brillen sind die neuen Handtücher! Da können sich die Touristen auf Malle eine Scheibe abschneiden.

Ironie off. Irgendwie herrschte an diesem Abend insgesamt eine seltsame leicht negativ aufgeladene und auch irgendwie unentspannte Grundstimmung. Es schien so, als müssten manche Gäste angesichts der Anmeldung, Vorbereitung, Anreise, Umstände und Kosten etc. quasi per Knopfdruck gefälligst jetzt unbedingt auf ihre Kosten kommen. Anderenfalls hätten sie wohl aus ihrer Sicht nur ihre Ressourcen vergeudet und alles wäre für die Katz‘. Ich – icher – am ichsten! So lautete das unausgesprochene Kredo. In Gesprächen mit vernünftigen Gästen, die zum Glück ebenfalls auf der Milonga vertreten waren, aber leider eher in der Unterzahl zu sein schienen, wurde mir mein Eindruck wiederholt bestätigt. Ein junger Herr etwa, der regelmäßig Gast auf Milongas in der Umgebung ist und den ich für seine sanfte und höfliche Art schätze, beschwerte sich während unserer Unterhaltung im Schlosshof bei mir über das rücksichtslose Benehmen anderer Tangueros. Diese seien sich nicht einmal ihrer Schuld bewusst, nachdem sie andere beim Tanzen gestört hatten. Ich persönlich wurde zweimal von Damen angerempelt, deren Herren nicht richtig aufgepasst hatten. Zum Glück ohne Blessuren. Insofern war meine Bilanz noch ok. Allerdings hatte ich beobachtet wie eine Dame eine Andere mit dem Absatz erwischt hatte und sich bei dieser etwas Haut über der Achillessehne abgeschält hatte. Zwar nur oberflächlich, aber ich dennoch wäre das vermeidbar. Die Tanguera pausierte auf der Fläche und machte sich ein Bild von ihrer Verletzung. Zwar war sie scheinbar nur oberflächlich, aber dennoch muss das nicht sein. Die andere Tänzerin schaute zwar kurz rüber, tanzte aber unbekümmert weiter. Unabhängig davon, wer nun tatsächlich die Verletzung verschuldet hat, gebietet es der Anstand kurz stehen zu bleiben und sich zu erkundigen, ob es der anderen Person gut geht. Aber nein. Einfach weitertanzen und so tun, als sei die Betroffene selbst Schuld. Was für Zombies sind eigentlich auf deutschen Pisten zurzeit unterwegs?

Ich fand ich die Gesamtsituation auf der Tanzfläche irgendwie abschreckend und hatte ich an diesem Abend nicht so richtig das Bedürfnis viel zu tanzen. Da war auch niemand Bestimmtes, mit dem ich an dem Abend unbedingt hätte tanzen müssen, um dafür mit Blut zu bezahlen. Stattdessen genoss ich also lieber das polnische Orchester „Bandonegro“, das ich schon immer einmal live erleben wollte und für das ich hauptsächlich gekommen war. Außerdem freute ich mich über die Stahlarbeiter-Portion Gulasch und mein kühles Radler dazu. Die Gastronomie war top. Und gegen Ende der Livemusik, als sich die Fläche ein wenig leerte, ließ ich mich nach längerer Pause zu zwei Tandas mit einem aufmerksamen und fröhlichen Herren hinreißen.

Danach war ich bettreif und machte mich auf die Heimreise. Mein verbliebenes Tanzbedürfnis habe ich dann übrigens am Folgetag auf einer beliebten Milonga in Frankfurt ganz entspannt und natürlich mit netten Menschen aufgeholt und ging zufrieden in die neue Woche.

Die Gastgeber der Schloss-Milonga selbst haben übrigens nichts falsch gemacht, sondern ganz im Gegenteil spürbar alles gegeben, um einen besonderen Abend auf die Beine zu stellen. In weiten Teilen ist ihnen das auch gelungen. Auf das Verhalten der Gäste kann man im Grunde auch nicht oder nur bedingt einwirken. Wobei… :–) Vielleicht sollte man eine Milonga-Polizei einrichten, die Rowdies konsequent aus der Ronda zieht und ignorante Stuhlbelagerer mit Sack und Pack in Richtung Garderobe beordert, denn schließlich besuchen sie eine Milonga und nicht etwa eine Turnstunde der 4c.

Als Ursache der Rücksichtslosigkeit und latente Aggressivität vermute ich jedenfalls, dass gerade ein so elegantes und dem Namen nach „royal“ anmutendes Ambiente leider auch im Nebeneffekt einige aristokratisch tickende Leute anlockt, die sich selbst als elitär und elegant definieren, ohne sich der Bedeutung und der Anforderungen solcher Attribute auch nur ansatzweise bewusst zu sein. Sie hören oder lesen, wie in diesem Fall, das Schlagwort „Schloss“ und finden aufgrund einer anmaßend-narzisstischen Grundhaltung, dass sie genau da hin gehören, ohne aber auch nur den Hauch einer Ahnung von dem historischen Hintergrund dieses Bauwerks zu haben oder echte Wertschätzung für dieses zu hegen. Dank ihrer überblähten Egos sind sie es jedoch gewohnt, in sämtlichen Lebensbereichen ihre Ellbogen einzusetzen und handhaben das dann als eine Art einigermaßen „bewährtes Mittel“ automatisch auch im Tango so. Anschließend wackeln sie zufrieden nach Hause, beglückwünschen sich innerlich selbst, einen erfolgreichen und glanzvollen Abend erlebt zu haben und blenden gleichzeitig aus, wie vielen anderen sie mit ihrem Egoismus und Platzhirschgetue die Stimmung getrübt haben. Ihnen bleibt zu wünschen, was sie sich im Grunde selbst ersehnen – ein leeres Parkett ganz für sich allein….

Die erwähnte Milonga ist nur ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit. Es gibt viele Milongas, auf denen Tänzer mit sozialen Defiziten und Persönlichkeitsstörungen aufschlagen. Erfahrungen wie diese erinnern mich aber immer wieder daran, dass die Eleganz als angestrebtes und gefeiertes Ideal im Tango Argentino in Wahrheit rein gar nichts mit zarten Glitzersandaletten, Perlenketten, gebügelten Seidenhemden oder paillettierten Milongakleidern zutun hat. Ebenso wenig mit der Qualität des Tanzes. Wer sich nicht zu benehmen weiß, beeindruckt auch nicht im schicken Outfit oder durch ausgefallene Bewegungen, sondern fliegt schnell auf. Denn Tanzen ist Ausdruck des Wesens eines Menschen und einen miesen Charakter kann man letztendlich nur schwer camouflieren. Wahre Eleganz hat ohnehin nichts mit Mode, (eingebildeten oder tatsächlichen) Tanzniveaus oder sozialem Status zu tun. Vielmehr ist sie Ausdruck einer inneren Geisteshaltung, die bestimmte Tugenden aufweist, die gerade unter Überwindung des eigenen Egos und der niederen Triebe zum Tragen kommen. Diesen kann eine Putzfrau ebenso wie eine Professorin gerecht werden und unter Umständen ist Erstere darin sogar besser. Und ja, ich vermeide bewusst verkappte Bezeichnungen wie Reinigungskraft, denn mit denen wollen sich Verwender meist nur selbst ehren und suggerieren einen Respekt gegenüber solchen Berufsgruppen, die sie in Wahrheit aufgrund ihrer Vogelperspektive gar nicht haben.

Sich zu rasieren, vor dem Kleiderschrank elegant rauszuputzen und Make-up aufzulegen ist keine große Kunst. Wenn man anderen körperlich nahe kommen möchte, versteht es sich von selbst, gepflegt in Erscheinung zu treten. Weitaus schwieriger ist es da, seinen Mitmenschen mit Rücksichtnahme, Geduld, Verständnis, Großzügigkeit und anderen sozialen Kompetenzen wohlwollend zu begegnen. Sind es nicht letztendlich genau diese Dinge, die den Tango elegant und wertvoll machen?

Mich würden eure Erfahrungen zum Thema Pogo-Tango interessieren.

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