Das Leben mit Tango ist wie das Zusammenleben mit einem Ehepartner: Eines Tages gelangt man an dem Punkt, an dem man ihn satt hat. Seine Art…seine Launen…. Als würde man in einer Zeitschleife feststecken. Man beginnt sich zu fragen, ob das alles ist, was für einen im Leben vorgesehen ist. Dann greift man sich ein Herz, führt einen Befreiungsschlag durch, zieht hinaus in die weite Welt und betrügt ihn mit — anderen Freuden. Irgendwann beginnt man dann, diese Entscheidung zu bedauern. Die anderen erwiesen sich auch nicht als besser. Also kehrt man reumütig zurück nach Hause, fleht um Verzeihung und ist froh und dankbar, wenn er einen großmütig zurücknimmt.
Kommt dir das bekannt vor? – Falls ja, mein aufrichtiges Beileid! Du bist ein Besessener und hast dich komplett an den Tango verloren.
Prioritäten setzen
Zwar nimmt Tango auch in meiner Wirklichkeit einen wichtigen Platz ein und dient insbesondere meiner Entspannung, aber ich verfolge mit vergleichbarer Leidenschaft auch andere Interessen. Denn bei nüchterner Betrachtung verspricht Tango viel und hält leider wenig. Geborgenheit, Romantik, Liebe, Freundschaft, Familie, Beständigkeit, Beachtung – entweder entpuppen sich seine Verheißungen als Schall und Rauch oder sie sind nur von kurzer Dauer. Mir persönlich bietet er nach eingehender Betrachtung einfach nicht genug an, als dass ich bereit wäre, ihm Exklusivität und ewige Ergebenheit zu schwören. Tango ist kein wirklich attraktiver Heiratskandidat.
Daher meine Empfehlung: Erforscht ihn, habt Spaß mit ihm und entlasst ihn anschließend wieder zurück, wo er hingehört und sich wohlfühlt: in die Freiheit!
Im März hatte ich berichtet, dass ich mir eine längere Auszeit von Milongas genommen habe und ausführlich meine Beweggründe erläutert:
Nach vier Monaten der Milonga-Stasis wagte ich mich Mitte April dann testweise wieder auf die Piste. Daheim im Schrank wartete ein Paar neue rote Tanzschuhe traurig und verlassen darauf endlich eingetanzt zu werden. :–D Zugegeben, das ist nur die halbe Wahrheit. Eine Freundin hatte mich indirekt motiviert. Genauer gesagt erinnerte mich der Austausch mit ihr daran, dass es Menschen gibt, die eine ähnliche Haltung und Wahrnehmung von der Tangowelt teilen. Zudem stand da einfach plötzlich die Idee im Raum. Die meisten Milongas besuchte ich bislang allein, um unabhängig kommen und gehen zu können. Da ich mich bei meinem Wiedereinsteig jedoch nur ungern allein ins Getümmel wagen wollte, fragte ich sie, ob sie mich begleiten wollte und zu meiner großen Freude und Erleichterung stimmte sie zu. Sie hatte kurz zuvor ebenfalls eine mehrmonatige Pause beendet.
Als Tatort wählte ich eine beliebte Milonga in Frankfurt, da in meiner Gegend an dem betreffenden Wochenende keine Milonga angekündigt war, zumindest keine, die mich reizte. Trotz angenehmer Gesellschaft überkamen mich auf der Autobahn jedoch Bedenken bezüglich meines Vorhabens. Der Gedanke, wieder auf dieses verrückte Karoussell zu steigen und es womöglich nie mehr verlassen zu können, bereitete mir ein wenig Kopfzerbrechen… Zu Unrecht, wie ich schnell feststellte. Denn dort eingetroffen, herrschte zu meiner Verblüffung eine sehr entspannte und positive Energie. Die Location war elegant, die Musik inspirierend und die Gäste überwiegend vornehm und wohlwollend. Ich war in der Vergangenheit bereits schon einmal dort, aber nur ein einziges Mal und zwar auf einer Milonga am Nachmittag. Das war schon länger her und hinterließ bei mir aufgrund einer Begegnung eher gemischte Gefühle. Aber nun war es an der Zeit, die damaligen Ereignisse mit neuen Erinnerungen zu ersetzen. Zudem waren diesmal viele gute Tänzer anwesend. Meine Freundin und ich amüsierten uns blendend und wurden ausgiebig betanzt. :–D Für mich war es eine der seltenen Milongas, die ich für mich als perfekt verbuche. Es ist schon irgendwie paradox: Tango ist am großzügigsten, je weniger man von ihm erwartet.
Die Dosis macht das Gift
Lange Rede, kurzer Sinn: Ich bin nun wieder zurück auch als Social Dancer. Allerdings auf Bewährung! Jedoch muss nicht ich mich bewähren, sondern vielmehr soll sich der Tango umgekehrt bei mir bewähren. Das bedeutet, dass ich – noch weniger als zuvor – nicht beabsichtige, wahllos wie ein hoffnungsloser Tango-Zombie jede Milonga mitzunehmen, sondern gründlich abwäge und mich vorher frage: „Gibt mir diese konkrete Milonga Kraft oder nimmt sie sie mir womöglich?“
So genau weiß man das natürlich vorher nicht, aber ich möchte da in Zukunft vermehrt auf meine Instinkte setzen. Mit fortschreitendem Alter durchlaufe ich derzeit eine Art Metamorphose. Ich tue mich schwer mit dem Gedanken, Zeit, Energie und Geld zu vergeuden. Qualität geht für mich insofern ganz klar vor Quantität. Konkret bedeutet das: Besser eine einzige gute Milonga pro Monat als ein Duzent miese. Besser eine einzige gute Tanda als sechs unbehagliche.
Aber das Hauptmotiv meiner inzwischen anspruchsvolleren Haltung bei der Wahl der richtigen Milonga liegt keineswegs nur im Vermeiden von Ressourcenvergeudung. Die Begegnung im Tango, also nicht dieser verfälschende Zirkus innerhalb der Community, sondern die pure Begegnung an sich sehe ich als etwas Besonderes und ja sogar als etwas Heiliges. Insofern ist es mir nicht gleichgültig, wen ich umarme bzw. mit wem ich tanze. Anderenfalls würde ich Tango Argentino bloß sinnlos imitieren. Leider teilen noch viel zu wenige Tangotänzer diese Philosophie der Selbst- und Fremdachtung. Viele agieren nach dem Motto: Yeah, Hauptsache tanzen, egol wo oder mit wem! Wem’s gefällt, bittesehr! Mich hält das nicht davon ab, meinen eigenen Kurs zu verfolgen.
Seit meiner kleinen Epiphanie in Frankfurt, habe ich übrigens drei Milongas zeitlich verstreut besucht: meine einstige Lieblingsmilonga in Heidelberg, die sich überraschend als totale Pleite entpuppte, eine weitere vor kurzem in Griechenland, die wiederrum großartig war und Mitte Mai eine neu ins Leben gerufene Milonga ebenfalls in Heidelberg, deren Organisation und Ambiente mir gut gefielen und Hoffnung auf künftige schöne Momente machte. Auf letzterer kannte ich zwar nicht viele Leute und tanzte „nur“ zwei Tandas mit jeweils Fremden, aber einer der beiden, ein Latino, hat meine Gedanken gelesen und mit seiner Energie meinen Abend gerettet. Einfach nur wow…
Nun, viel mehr gibt es zu meinem Wiedereinstieg eigentlich nicht zu sagen. Ich kann eine Pause grundsätzlich nur jedem Tänzer empfehlen. Mit der nötigen Distanz bewertet man den Tango für sich neu. Ich zumindest sehe ihn nun aus einer anderen Perspektive und nehme ihn nicht mehr allzu ernst. Für mich die ideale Voraussetzung, um ihn wirklich zu genießen.
Tango ist wie eine Schachtel Pralinen – man weiß nie was man bekommt. Aber letzten Endes hat man es ein Stück weit auch selbst in der Hand, wie er einem bekommt… :–P