Wanted!

Eines gleich mal vorweg: wir sind hier nicht im Wilden Westen! Zumindest glaubte ich das, bis jemand kam und meine „Kutsche“ beschädigte, aber eins nach dem anderen.

Schock, Irritation, Selbstvorwürfe, Angst, paranoide Gedanken, Schlaflosigkeit… So ergeht es tagtäglich Opfern von Kriminalität. Diese Kaskade unbehaglicher Emotionen, die durch ein traumatisierendes Schadensereignis unvermittelt losgetreten wird, habe ich am 3. Oktober auf unangenehme Weise selbst zu spüren bekommen und wirkt – zumindest teilweise – noch heute fort. Davor bewahren mich auch meine Fachkenntnisse nicht bzw. nur geringfügig.

For some context: In der Nacht auf den diesjährigen Tag der Deutschen Einheit wurde mein liebes Auto, das brav an der Straße parkend schlummerte, von Unbekannten vorsätzlich beschädigt. Beide Kennzeichen wurden dabei entwendet. Als ich es am Nachmittag in diesem Zustand vorfand, war ich natürlich perplex und konnte das erst einmal gar nicht so richtig einordnen. Unnötig zu erwähnen, dass meine entspannte Feiertagslaune ab diesem Zeitpunkt erst einmal im Keller war…. Denn notgedrungen musste ich den Nachmittag auf dem Polizeirevier verbringen, um den Vorfall zur Anzeige zu bringen.

In der Zeit darauf folgten weitere unangenehme Aufgaben wie Behördengänge, Werkstatttermine, Korrespondenz mit der Versicherung usw. Daneben hat ein solches Ereignis natürlich auch Auswirkungen auf die mentale und physische Gesundheit eines Menschen. So plagten mich in den darauf folgenden Tagen Unruhe, nachts konnte ich nur schwer einschlafen und wachte zu früh auf. Viele Gedanken schwirrten mir durch den Kopf.

Um meine innere Balance zu wahren bzw. wiederherzustellen, meditiere ich seither vermehrt und treibe auch mehr Sport als sonst. Das hilft bei der Krisenbewältigung. Den Rest muss dann wohl die Zeit erledigen. Nachdem der erste Schock überwunden war, stand ich allerdings vor der Entscheidung, wie ich mit dieser Situation im Weiteren am sinnvollsten verfahren soll. Der leichteste und bequemste Weg wäre natürlich, einfach Gras über die Sache wachsen zu lassen, sich bedeckt zu halten, still und leise zu leiden und zu hoffen, dass der Täter nicht erneut zuschlägt. Dies entspricht auch dem Verhalten, welches die mehrheitliche Gesellschaft von einem in dieser Situation erwartet. Lautstarkes Aufbegehren und gelebte Wehrhaftigkeit hingegen werden leider oft schnell zum Nachteil des Geschädigten verkehrt (Stichwort: victim blaming). Insbesondere fühlen sich duckmäuserische Persönlichkeitstypen dadurch in ihrer eigenen fein säuberlich kultivierten Schwäche entlarvt und insofern bedroht. Aber das soll jetzt hier nicht Thema sein. Vielleicht komme ich bei anderer Gelegenheit darauf zu sprechen.

Auf diese Art von egativer Aufmerksamkeit bin ich vor diesem Hintergrund grundsätzlich nicht wirklich scharf. Nach gründlicher Abwägung meiner Interessen und Rechtsgüter kann ich es mir jedoch nicht leisten, mich mit der Frage nach der gesellschaftlichen Akzeptanz oder Nichtakzeptanz meiner Haltung und Herangehensweise zusätzlich zu belasten. Dieser steht nicht zuletzt auch meine Pflicht und mein Anspruch vor mir selbst gegenüber, mich eben nicht von meinen Bedenken und Ängsten leichtfertig unterkriegen zu lassen. Ebenso eine gewisse Verpflichtung meinem privaten Umfeld gegenüber, welches durch das Ereignis und mein Befinden teilweise in Mitleidenschaft gezogen wurde.

Hiervon soll sich niemand im Einzelnen vor den Kopf gestoßen zu fühlen, nur rein nüchtern betrachtet, kommt die Gesellschaft nicht für den mir entstandenen Schaden auf und vermag mich vor solchen Übergriffen auch nicht effektiv zu schützen. Für den Selbstschutz ist letztendlich, auch wenn diesbezüglich medial oft beschwichtigende Augenwischerei betrieben wird, jeder Mensch von Natur wegen nicht nur ermächtigt, sondern auch verantwortlich. Insofern höre ich da lieber auf mein eigenes Bauchgefühl und habe ich mich entschieden, mich mitsamt meinem Ärger nicht zu verstecken, sondern meine Komfortzone ganz bewusst zu verlassen, laut zu sein und eine Fangprämie auszuloben:

Hinsichtlich der Höhe der Belohnung, die von den Gerichten gemeinhin akzeptiert wird, sind mir leider die Hände gebunden, aber vielleicht ist die allgemeine Sicherheit der betreffenden Gegend für einen möglichen Augenzeugen oder Wissenden ja Lohn genug, um sich zu Wort zu melden, denn ob sich der Angriff gezielt gegen meine Person richtete oder mein Auto nur zufällig gewählt wurde, ist aktuell völlig unklar.

Dieser kleine Blog ist nicht darauf ausgelegt, eine breite Öffentlichkeit zu erreichen und das ist hier auch gar nicht nötig, zumal es wohl wenig zielführend wäre, die ganze Stadt oder ganz Deutschland in Kenntnis zu setzen. Deshalb habe ich die Auslobung zahlreichen Haushalten in Tatortnähe gezielt per Flyer und Aushang zukommen lassen. Mit diesem Post möchte ich insofern nur meine Leser auf dem Laufenden halten. Teil 3 von „Faszination Tango-Community“ muss leider noch etwas auf sich warten lassen.

Selbst wenn der Täter nicht gefasst werden sollte, bleibt mir persönlich die Genugtuung genau zu wissen, dass Personen, die anderen absichtlich Schaden zufügen, in den allermeisten Fällen schwer unter ihrer eigenen Befindlichkeiten und Affekten leiden und in Wahrheit sie selbst ihr erstes und gleichzeitig auch ihr größtes Opfer sind.

Der gestörten Seele, die offenbar nichts Besseres zutun hat, als in der Nacht aus ihrem Loch zu kriechen, um sich feige und perfide am Eigentum anderer zu vergreifen, möchte ich auf diesem Wege mitteilen: leide weiter!

Faszination Tango-Community – Teil 2

Wer hat hier eigentlich das Sagen?

Kurz gesagt: niemand und gleichzeitig alle.

Stellt man auf die Organisation von Tango-Communitys ab, so bemerkt man als aufmerksamer und objektiver Beobachter unschwer, dass sie nicht zentral regiert werden. Im Grunde werden sie überhaupt nicht regiert. Zumindest bisher nicht. Insofern sind wir Tangomenschen herrschaftslos und frei. Das bedeutet nicht, dass wir keine Werte oder Regeln haben. Aber dazu später mehr. Betrachten wir erst einmal weiter unsere Natur. Im Grunde regeln wir alles untereinander. Ich sage es ja nur ungern, aber das macht uns zu waschechten Anarchisten!

Gleichberechtigung

Da der Anarchismus jegliche Hierarchie negiert, bedeutet das für uns, dass jeder, der im Tango aktiv ist – ganz gleich ob beruflich oder hobbymäßig – gleichberechtigt ist. Dies umfasst freilich auch das gleiche Recht, den Kurs der Community im gegenseitigen Austausch mitzubestimmen. Das Mitbestimmungsrecht ist aber nicht zu verwechseln mit einem etwaigen Wahlrecht, denn wir halten faktisch keine Wahlen ab. Insofern entfällt eine wesentliche Säule der Demokratie. Wir sind keine Demokraten, wenn es um die Frage geht, wie wir den Tango zu kultivieren. Wir kultivieren ihn einfach und die Persönlichkeit und der Wille jedes Einzelnen fließt in die Ausübung des Tango mitein und prägt diesen mit. Wie intensiv man sich einbringt, ist dabei jedem selbst überlassen. Manche Ideen erfahren Zustimmung durch andere Mitglieder – und manche wiederum finden kaum Beachtung.

An sich hat dieses System bisher prima funktioniert und würde auch weiterhin funktionieren, gäbe es da nicht gewisse Bessermachenwoller. Eine Gefahr dieser Gleichberechtigung besteht nämlich mitunter in Bestrebungen, die Interessen der Praktizierenden vertreten zu wollen, also gegenüber der Rahmengesellschaft, relevanten Institutionen und auch dem Staat. Früher erschien mir die Idee, dass Tangoprofis Berufsverbände gründen, vernünftig und sinnvoll. Zünfte, Kammern und Co. haben schließlich eine lange Tradition in Deutschland. An sich mag diese Idee auch gut gemeint sein. Aber gerade im Tango sehe ich das mittlerweile doch eher kritisch. Juristisch mag eine Interessensvertretung die Rechtspositionen der Profis stärken. Aber im weiteren Verlauf könnte daraus problemlos ein Machtanspruch zugunsten bestimmter Interessensvertreter und zugleich zulasten der kulturellen Vielfalt im Tango entspringen, wobei dieser genau genommen zu keinem Zeitpunkt durch einvernehmlichen Konsens der Community an diese übertragen wurde. Dies birgt das Risiko, dass von ihnen anmaßend und illegitim definiert und geregelt werden könnte, was genau Tango in Musik und Tanz ist und was nicht. Dies würde dem Tango ein strammes Korsett anlegen, was gerade aufgrund der Besonderheit dieses Kulturgutes nicht nur obsolet wäre, sondern auch kontraproduktiv. Und ein solches Streben könnte man dabei – theoretisch – problemlos legitim anmuten lassen, zum Beispiel durch das besondere Schutzbedürfnis des Kulturgutes oder dem Bedürfnis der Profis, von ihrer Kunst leben zu können.

Jeder Mensch wünscht sich ein sicheres Dach über dem Kopf und das tägliche Essen auf dem Teller. Aber realistisch betrachtet, ist mir persönlich kein Tangoprofi untergekommen, der vom Tango wirklich komfortabel und sorgenfrei lebt. Und diejenigen, die damit über die Runden kommen, sind ständig auf Achse und in Sorge. Denn wie alle anderen Wirtschaftszweige, richtet sich auch die Kulturbranche nach den geltenden Naturgesetzen wie etwa Angebot und Nachfrage. Tango bedient im Grunde nur eine winzige Nische. Man verpflichtet sich ihm also nicht, sofern man grundsätzlich bei Verstand ist, aus Profitstreben, sondern aus tiefer Leidenschaft. Eine brotlose Kunst ist Tango keineswegs, allerdings sind die Lebenshaltungskosten in Deutschland sowie in weiten Teilen Europas alles andere als niedrig. Reicht also etwa das Musizieren im Tangoorchester nicht aus, um davon seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, sollte man dies womöglich besser nur als Hobby betreiben oder allenfalls als Nebenjob. Zumindest ist es kein Fehler, über einen Plan B zu verfügen.

Tangoprofis streben an, vom Tango leben zu wollen. Ich sehe daher nicht, was genau ein Berufsverband konkret daran ändern könnte. Ein solcher vermag den Tango nicht aus seiner Nische zu holen. Man kann einer Kulturgesellschaft nicht künstlich aufs Augen drücken, was in weiten Teilen nicht zu ihrer Mentalität passt. Selbst mit viel Geld und Rückendeckung ist dies schwer möglich. Zurzeit versucht man mit viel medialer Agressivität, hierzulande den amerikanischen Football an den deutschen Michel zu bringen. Vorangetrieben wird das durch einflussreiche Medienunternehmen, die sehr wahrscheinlich mit kompetenten Thinktanks und Medienstrategen kooperieren. Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf: Welche auch nur annähernd vergleichbare Maschinerie und Finanzkraft können da bitteschön die Verbandsvorläufer konkret vorweisen, um den Tango in Deutschland populärer zu machen? Um ihn zu bewerben und attraktiv zu machen, benötigt man einen solchen auch nicht. Es sind nach meiner Beoachtung die einfachen Hobbytänzer, die Außenstehende in den Tango holen.

Wohin sich solche Verbandsvorläufer genau entwickeln, bleibt abzuwarten. Ich bin für gute Argumente offe, sehe das jedoch bisweilen kritisch. Fest steht jedoch, dass echte Kultur aus der Mitte der Gesellschaft und somit horizontal entsteht und lebt und nicht etwa vertikal also von oben herab gewährt oder gelenkt wird. Anderenfalls würde sich der Tango längerfristig zu einer Karikatur entwickeln, die von einigen Wenigen nach ihrem persönlichen Geschmack anmaßend und künstlich geformt würde.

Sons and Daughters of Anarchy

Begriffe wie Anarchie bzw. Anarchismus sind hierzulande negativ konnotiert. Sie werden mit Chaos und Gewalt in Verbindung gebracht. Viele denken da an Graffitischmierereien, brennende Molotowcocktails, die durch Glasscheiben fliegen, Vandalismus usw. Aber mit der dahinterstehenden politischen Philosophie hat das alles nichts zutun.

Also immer schön cool bleiben… Hier ist lediglich die Rede von Tango. Tango ist eine kleine Traumwelt, also eine abstrakte Dimension, die räumlich auf dem jeweiligen Staatsgebiet stattfindet, in welcher er praktiziert wird. Begegnen wir uns also in der Bundesrepublik Deutschland, um gemeinsam Tangomusik zu spielen oder Tango zu tanzen, so findet alles im Geltungsbereich des Grundgesetzes statt, d.h. Gewaltenteilung, die deutschen Gesetzgebung etc. gelten uneingeschränkt fort und machen vor dem Tango und anderen kulturellen Interessensgemeinschaften natürlich keinen Halt. Alles, was wir in dieser Dimension so anstellen, muss bzw. sollte idealerweise im Einklang mit der übergeordneten Rechtsordnung stehen. Und nach meiner Beobachtung tut es das in den meisten Fällen auch.

Solange wir also mit der Rechtsordnung nicht kollidieren, sind wir frei. Während des Covid19-Lockdowns und diesem ganzen 3-G und 2-G-Nonsens wurden wir Tangopraktizierende mit dieser Tatsache besonders hart und unvermittelt konfrontiert. Ich erinnere mich noch schmerzlich daran, wie ich in der Anfangsphase der Lockerungen innerhalb gekennzeichneter Kästchen auf dem Parkett getanzt habe. Ein paar Quadratmeter waren es bloß. Besser als nichts, aber Freiheit war das auch nicht gerade. Danach konnte sich die Szene nach und nach erholen und wieder entspannt entfalten, wobei einige Schulen dies wirtschaftlich nicht verschmerzen konnten.

Autonomie

Jede Community regelt ihre Angelegenheiten und Ziele also selbst. Vom Engagement ihrer lokalen Mitglieder hängt übrigens auch ab, wie lebendig sie floriert. Darauf hat jedes Mitlglied Einfluss – Nobodys genauso wie VIPs. Einzelnen Mitgliedern mag die Herrschaftlosigkeit, welche dem Geist des Tango inhärent ist, nicht so gut schmecken und möchten gerne wichtiger sein als andere. Dann gibt es wiederum solche, die sich freiwillig unterwerfen oder anderen anhänglich machen, was meiner Beobachtung nach oft nur in der kalkulierten Hoffnung geschieht, durch die vermeintliche Führungspersonen mit in den Tangoolymp erhoben zu werden. Zum Fremdschämen….

Mir wurden, vor allem in der Anfangszeit, immer mal wieder graue Eminenzen vorgestellt, die angeblich die deutsche Community mitgegründet haben sollen und insofern superwichtig seien. Da ich derartige Behauptungen im Verlaufe solcher Unterhaltungen, d.h. auf die Schnelle, nicht überprüfen konnte und mir ihr konkreter Beitrag für meine bisherige Entwicklung im Tango weder ersichtlich noch spürbar war, verzichtete ich auf den gewünschten demütigen Kniefall. Was ich nämlich trotz meiner damaligen Orientierungsprobleme in der Tangowelt zu dieser Zeit zum Glück rasch erkannte, war, dass man mit solchen signalhaften Hinweisen und das gar nicht mal sooo elegant-subtil eine Art Autorität und Machtgefälle postulierte, die ein entspanntes und respektvolles Kennenlernen auf Augenhöhe per se unmöglich machte. Um solche Konditionen und Strukturen machte ich schon immer einen großen Bogen und das würde ich auch jedem würdevollen Tänzer und empfehlen.

Gleichberechtigung

Sich über- und unterzuordnen, liegt freilich in der menschlichen Natur. Aber im Tango gibt es faktisch keine Könige, keinen Hohen Tangorat, keine Armee und keine Richter. Allerdings schlagen hier und da ein paar anmaßende Personalien auf, die gerne den Boss spielen wollen. Manchmal auch mit Entourage, um einen Herrschaftsanspruch zu suggerieren und zu untermauern. Im Grunde stellen sich solche Leute abseits der eigentlichen Community, denn sie kochen ihr ganz eigenes Süppchen, das dem freiheitlichen Wesen des Tango nicht gut bekommt.

Wer mich kennt, weiß, dass mir die Szenarien nicht so schnell ausgehen: Wenn zwei ganz gewöhnliche Hobbytänzer auf der Straße spontan, mit Herzenswärme und innerer Verbundenheit einen Tango tanzen, ist ihre bescheidene Aktion, auch wenn viele das belächeln würden, genauso(!) bedeutsam für die Bewahrung der lebendigen Tangokultur wie die Organisatoren großer internationaler Tangofestivals oder die Meisterpaare, die dort aufschlagen um sich im Blitzlicht zu sonnen. Nichts gegen unsere Maestros und Maestras. Sie beflügeln unsere Phantasien und zeigen ungeahnte Möglichkeiten auf. Selbstverständlich habe ich auch meine persönlichen Tango-Idole, aber die habe ich mir aufgrund von Besonderheiten, die mich faszinieren selbst auserkoren und treten mir außerdem auch umgekehrt mit Respekt gegenüber. Was die oben genannten Hobbytänzer auf der Straße angeht, ist ihre Darbietung vielleicht nicht so spektakulär, aber dafür authentisch, da ohne jegliches Gewinnstreben oder Anspruchsdenken, sondern aus einem tiefen Bedürfnis heraus. Wer die Gleichberechtigung aller Community-Mitglieder ernsthaft anzweifelt, hat den argentinischen Tango entweder nicht begriffen oder nicht begreifen wollen.

Community im steten Wandel

Einen fest abgesteckten Personenkreis bilden wir definitiv nicht. Wir sind kein Geheimbund. Und auch kein Dorf, auch wenn es sich manchmal so anfühlt als würde man auf Milongas und Marathons Nachbarn begegnen. Mitglieder verschwinden. Neue Mitglieder kommen hinzu. Und hier und da ein bekanntes Gesicht. Die Tango-Community ist keineswegs statisch, was ihre Mitglieder anbelangt, auch wenn wir uns manchmal, wohlgemerkt manchmal(!), gegenseitig etwas anöden. Wir schmeißen uns nicht nur wegen der bekannten Gesichter auf die Piste. Nicht nur um alte Freunde zu treffen. Nein. Zwar bieten sie Geborgenheit und damit das gewisse wohlige Wohnzimmerfeeling. Aber den meisten von uns sind neue Gesichter sehr willkommen.

Nachschub Nachwuchs

Aber woher die Gier nach neuen Tänzern? Nun, spätestens nach ein paar Jahren Erfahrung hat man alle interessanten Mittänzer gewissermaßen durch, um nicht zu sagen auch ein wenig satt. Es passiert nichts Überraschendes mehr. Mit der Zeit kennt man sich ganz gut und weiß wie der Andere führt oder sich führen lässt. Zumindest glaubt man, es zu wissen. Man sehnt sich nach dem Unbekannten und Unberechenbaren, so wie das Abenteuer einst ganz am Anfang seinen Lauf nahm. Dabei möchten sich die meisten aus reiner Bequemlichkeit weder mit der eigenen Geisteshaltung auseinandersetzen noch möchte jede zweite Woche verreisen und sich in komplett andere Tango-Kreise zu begeben, nur um neue Tänzer zu erleben. Da ist es einfacher, in die eigene Community neue Mitglieder zu locken und zu passablen Tänzern heranzuzüchten. Pragmatismus zeichnet uns aus. Der Wille ist da. Aber ironischerweise möchte sich kaum jemand wirklich die Mühe machen, einen Anfänger unter die Fittiche zu nehmen und ihn monate- oder gar jahrelang zu fördern, bis er gut genug tanzt. Erstrecht nicht, wenn man selbst einen steinigen Lernprozess hinter sich hat. Es sei denn vielleicht, er oder sie zeigt sich in besonderer Weise „erkenntlich“. Sonst lohnt sich das Investment aus der Sicht der meisten Möchtegern-Daddies und -Mommies nicht. Machen wir uns also nichts vor! Altruismus ist Mangelware in deutschen Tango-Communities.

Aber, um auf die alten Gesichter zurückzukommen: Mit der richtigen Perspektive und Einstellung ist jede Tanda neu und frisch, egal wie oft wir schon mit ein und demselben Tänzer getanzt haben. Aber dennoch, neue Tänzer sollen her! Aus der Mitte der Gesellschaft sollen sie interessiert und, um Tacheles zu reden, im nächsten Schritt rekrutiert werden. Das Bäumchen-wechsel-dich-Spiel soll reibungslos am Laufen gehalten werden. Das Ganze würde an einen Swingerclub erinnern, wäre da nicht dieser Kultcharakter und das vage Gefühl, dass ab und zu etwas ganz Heiliges in der Umarmung passiert, das weit über die profane physische Anziehungskraft hinausgeht.

Politik

Man hört oft, dass die Tango-Community wie ein Spiegel der Gesellschaft sei. Mit dem Begriff der Gesellschaft assoziieren viele schnell ein bestimmtes politisches System. Es laufen interessante Debatten über die Frage, ob Tango kapitalistisch oder kommunistisch sei. Nun, der Mensch bringt sich im Grunde mit allen Facetten und Charaktereigenschaften mit ein, über die er auch vor dem Beitritt verfügte, mit all seinen guten und all seinen schlechten.

So falsch ist das mit dem Spiegel also nicht. Verschiedene Kulturen und teilweise sehr widersprüchliche Mentalitäten treffen im Tango wie in einem Schmelztiegel aufeinander. Als Ausdruck von Leidenschaft, Melancholie und Schmerz ist Tango jedoch keine Erfindung Reicher oder Intellektueller, sondern ein Kind der Armut. Einfache Menschen, die unter existenziellen Problemen und Hoffnungslosigkeit litten, haben ihn entwickelt, kultiviert, ihn weitergegeben und ihn somit auch unseren Breitengraden und unserer Generation geschenkt. Im Umkehrschluss bedeutet dies: wenn wohlhabende Leute ihn praktizieren, ist es im Grunde nichts anderes als kulturelle Aneignung.

Da der Kommunismus als gesellschaftstheoretische Utopie nicht unabhängig vom Kapitalismus gedacht werden kann, spielt der Kapitalismus im Tango schon eine gewisse Rolle. Bekanntlich ist der Mensch ein politisches Wesen, ein zoon politikon. Aus keinem Lebensbereich lässt er seine politische Haltung komplett außen vor. Dazu ist der Mensch kaum imstande. Aber deshalb ist der Tango für sich betrachtet nicht automatisch politisch oder gar kapitalistisch. Vielmehr wurde er als abstrakter Zufluchtsort geschaffen, in der die Welt noch in Ordnung schien und das Leben noch lebenswert. Selbst wer in der Außenwelt wirtschaftlich und sozial ganz unten angekommen war, konnte im Tango Anerkennung finden oder gar ein König sein, wenn er gut genug tanzte. Noch heute kann man sich in den Tangosalons in Buenos Aires Status und Rang verschaffen, wenn man gut tanzt.

Es ist, wie dargestellt, keineswegs eine bestimmte politische Weltanschauung, die die Tango-Community anleitet. Wir wissen nun, wir sind Anarchisten. Aber was sind wir noch? Was ist es, das uns eint?

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