Eins mit der Musik

[Warnung: der Beitrag enthält SPOILER zum Film „Rogue One: A Star Wars Story“]

Es dauert für gewöhnlich eine ganze Weile, aber wenn man mitten im Tangoleben angekommen ist, also schon diverse Kurse und Workshops in petto hat, regelmäßig Milongas besucht und die ersten Kontakte geknüpft hat, baut man die anfänglichen Hemmungen und Unsicherheiten langsam aber sicher ab. Zumindest erging es mir so. Mit zunehmender Erfahrung plagten mich nun nicht mehr diese anfänglichen, eher banalen Sorgen, ob ich etwa gut genug tanze oder mein Outfit richtig sitzt usw. Wichtig war von nun an nur der besondere Moment, den man mit diesem einen Menschen teilt.

Obwohl ich ab diesem Entwicklungsstadium wesentlich offener und entspannter in die Begegnungen hineinging, überforderte mich manchmal die Intimität, die das Tangotanzen nunmal unweigerlich erzeugt. Diese kommt ohne große Ankündigung wie aus dem Nichts! Cabeceo – fertig – los! Irgendwie erschien und erscheint diese rasante Entwicklung unnatürlich, vor allem wenn man bedenkt, wie lange es in anderen Lebensbereichen dauert bis Menschen sich einander annähern. Beim Tango ist es anders: plötzlich findet man sich in den Armen eines Fremden wieder und das nicht selten sogar mehrmals an einem Abend. Und dann geht es auch schon unmittelbar los, dieses ständige Geben und Nehmen von Energie….Wärme….und was weiß ich nicht alles.

Damit mich diese Intimität in der Abrazo nicht zu sehr überfordert, suchte ich nach einer Art Anker. Diesen fand ich letztendlich in der Musik. Beim Tanzen genauer hinzuhören, also meine Aufmerksamkeit gezielt auf die Melodien, Rhythmus und einzelne Instrumente zu richten, brachte nicht nur meine Gedanken und Gefühle zur Ruhe, sondern leitete mich zugleich an. Um diesen geistigen Fokus bewusst einzuläuten, dachte ich mir zunächst folgendes Mantra aus:

Ich bin eins mit der Musik

Dahinter verbirgt sich offen gestanden lediglich mein Wunschdenken, meine Bewegungen zum Ausdruck der Musik werden zu lassen bzw. sie mit ihr in Einklang zu bringen ohne(!) mir dabei untreu zu werden. Nach diesem Spagat strebe ich im Tango und er ist alles andere als leicht. Es gelingt mir bislang nur selten, aber dann freue ich mich umso mehr! Denn obwohl ich schon eine zeitlang Tango tanzte, hatte ich mich mit der Musik und der Musikalität bis dato kaum befasst. Erst vor kurzem habe ich überhaupt damit begonnen. Dabei scheint die Musik der Schlüssel zum Tangohimmel zu sein. Man tanzt Tango schließlich nicht trotz der Musik, sondern gerade wegen der Musik.

Als Science-Fiction-Fan musste ich bei meinem Mantra-Entwurf zwangsläufig an ein Zitat aus „Rogue One: A Star Wars Story“ aus dem Jahr 2016 denken, nämlich an das legendäre Mantra des blinden Kriegermönchs Chirrut Îmwes (gespielt von Donnie Yen), welches übersetzt lautet: „Ich bin eins mit der Macht. Die Macht ist mit mir.“ (orig. I am one with the Force, and the Force is with me.). Von dieser Figur war ich schwer beeindruckt. Mit diesem Mantra bekannte sich der machtsensitive Mönch, welcher Mitglied des Ordens Wächter der Whills (Guardians of the Whills) war, die Macht zu kennen, zu achten und zu spüren, sich ihr hinzugeben, sich in Harmonie und Einklang mit ihr zu befinden und sich somit ihrer wohlwollenden Unterstützung jederzeit gewiss zu sein.

Diese Interpretation wird nicht zuletzt auch durch die ebenfalls von Chirrut gepredigte Langfassung gestützt „Die Macht ist mit mir. Ich bin eins mit der Macht. Und ich fürchte nichts, weil alles so ist wie die Macht es will“ (orig. The Force is with me, and I am one with the Force. And I fear nothing, because all is as the Force wills it.g). Gemäß ihrer religiösen Praxis zogen die Wächter es jedenfalls vor, die Macht und ihre Präsenz zu spüren, wohingegen im Vergleich hierzu, die Jünger der Whills (Disciples of the Whills)sich eher damit beschäftigen, ihr zuzuhören und ihren Willen zu ermitteln (Quelle: Lucasfilm Ltd. LLC, The World Disney Company. „Rogue One: A Star Wars Story“. Regie: Gareth Ewards, 2016.)

Was das mit Tango zutun hat? – Nun, die Welt des Tango Argentino ähnelt ebenfalls einem religiösen Kult und die Praktizierenden hegen nicht selten eine spirituelle Haltung zu Musik und Tanz.

Die Musik leitet den Tänzer im Grunde so an wie die Macht den gläubigen Mönch. So wie die Macht alle Materie, also alles Lebende und Nicht-Lebende bedingt, durchströmt und zusammenhält, so ist auch die Musik die unverzichtbare zentrale Kraft, die das Tanzen bzw. Tanzenwollen sowie letztendlich alles, was sich im Tango und auch zwischen den Zeilen abspielt, überhaupt kausal ermöglicht.

Motiviert durch mein obiges Wunschdenken und inspiriert von Chirruts Worte, ergänzte ich mein zweites Tangomantra und denke mir oft noch heute zu Beginn einer Tanda:

Ich bin eins mit der Musik und die Musik ist mit mir

…möge die Musik auch mit euch sein. Immer. ;–)

Tango ≠ Eleganz

Letztes Wochenende wurde im bezaubernden Heidelberg auf einer Milonga eine neue Stilrichtung des Tangos erfunden. Ich taufe sie Pogo-Tango! Ja, richtig gelesen, eine ungesunde Mischung aus dem aus der Punkeszene stammenden Pogo und Tango Argentino, die jede Menge Spaß und blaue Flecke verheißt. Die Milonga war eines der Highlights eines mehrtägigen Tango-Events einer renommierten Tangoschule. Veranstaltungsort war der elegante Königssaal auf dem altehrwürdigen Schloss. Beim Betreten der Location schien alles zunächst super. Man wurde freundlich begrüßt, der DJ sorgte für gute Musik und die Leute waren schick, erwartungsgemäß schicker als bei gewöhnlichen Milongas. Aber abgesehen davon, dass sich die Masse aus Tanzpaaren grob gegen den Uhrzeigersinn bewegte, war von einer geordneten Ronda leider nicht viel zu erkennen. Konzentrische Bahnen? Abstand unter den Tanzpaaren? –Fehlanzeige! Für die Bildung von Bahnen war auf dem großen Parkett zwar genügend Platz. Aber viele Paare tanzten kreuz und quer wo sich gerade eine Gelegenheit bot. Und wenn man gerade keinen Platz für seinen Tatplan seine nächste Figur hatte, wurde eben Platz gemacht. Ob man es unter Ludwig V. dem „Friedfertigen“ auch so krachen ließ?

Beispiel Pogo-Tanz

Auf der Tanzfläche wurde jedenfalls munter gerempelt, geschupst und getreten was das Zeug hält…. Selbst wenn eine Tanda schon so gut wie gelaufen und die Tanzfläche voll war, haben sich Spätentschlossene, ohne sich mit den benachbarten Paaren zu koordinieren, in die Ronda geschmissen wie Kleinkinder in den Bällepool. Selbstzurücknahme? Jemanden um Erlaubnis fragen? Auch mal Andere ungestört ihr Ding machen lassen und die nächste Tanda abwarten? –Nö, man möchte schließlich nicht zu kurz kommen… und erniedrigen will man sich durch zuviel Höflichkeit schon mal gar nicht.

Und auch abseits der Tanzfläche kultivierte man die neue Pogo-Philosophie notlos weiter. Wehe man ruhte sich auf einem Stuhl aus, der schon „reserviert“ war. Da wurde man, selbst wenn dieser mindestens während der letzten 2-3 Tandas nicht genutzt wurde, harsch von Herrenmensch*innen verjagd. Das galt nicht nur für Stühle, die trotz des Vorhandenseins einer überwachten und sauberen Garderobe mit unschönen XXL-Sporttaschen, Jacken, Trekkingrucksäcken, Straßenschuhen und anderen Stolperfallen blockiert waren, sondern auch für Stühle, die sichtbar keine persönlichen Gegenstände aufwiesen und somit frei waren, aber in deren Nähe auf dem Tisch eine Brille abgelegt war. Wie? Etwa nicht gewusst? Brillen sind die neuen Handtücher! Da können sich die Touristen auf Malle eine Scheibe abschneiden.

Ironie off. Irgendwie herrschte an diesem Abend insgesamt eine seltsame leicht negativ aufgeladene und auch irgendwie unentspannte Grundstimmung. Es schien so, als müssten manche Gäste angesichts der Anmeldung, Vorbereitung, Anreise, Umstände und Kosten etc. quasi per Knopfdruck gefälligst jetzt unbedingt auf ihre Kosten kommen. Anderenfalls hätten sie wohl aus ihrer Sicht nur ihre Ressourcen vergeudet und alles wäre für die Katz‘. Ich – icher – am ichsten! So lautete das unausgesprochene Kredo. In Gesprächen mit vernünftigen Gästen, die zum Glück ebenfalls auf der Milonga vertreten waren, aber leider eher in der Unterzahl zu sein schienen, wurde mir mein Eindruck wiederholt bestätigt. Ein junger Herr etwa, der regelmäßig Gast auf Milongas in der Umgebung ist und den ich für seine sanfte und höfliche Art schätze, beschwerte sich während unserer Unterhaltung im Schlosshof bei mir über das rücksichtslose Benehmen anderer Tangueros. Diese seien sich nicht einmal ihrer Schuld bewusst, nachdem sie andere beim Tanzen gestört hatten. Ich persönlich wurde zweimal von Damen angerempelt, deren Herren nicht richtig aufgepasst hatten. Zum Glück ohne Blessuren. Insofern war meine Bilanz noch ok. Allerdings hatte ich beobachtet wie eine Dame eine Andere mit dem Absatz erwischt hatte und sich bei dieser etwas Haut über der Achillessehne abgeschält hatte. Zwar nur oberflächlich, aber ich dennoch wäre das vermeidbar. Die Tanguera pausierte auf der Fläche und machte sich ein Bild von ihrer Verletzung. Zwar war sie scheinbar nur oberflächlich, aber dennoch muss das nicht sein. Die andere Tänzerin schaute zwar kurz rüber, tanzte aber unbekümmert weiter. Unabhängig davon, wer nun tatsächlich die Verletzung verschuldet hat, gebietet es der Anstand kurz stehen zu bleiben und sich zu erkundigen, ob es der anderen Person gut geht. Aber nein. Einfach weitertanzen und so tun, als sei die Betroffene selbst Schuld. Was für Zombies sind eigentlich auf deutschen Pisten zurzeit unterwegs?

Ich fand ich die Gesamtsituation auf der Tanzfläche irgendwie abschreckend und hatte ich an diesem Abend nicht so richtig das Bedürfnis viel zu tanzen. Da war auch niemand Bestimmtes, mit dem ich an dem Abend unbedingt hätte tanzen müssen, um dafür mit Blut zu bezahlen. Stattdessen genoss ich also lieber das polnische Orchester „Bandonegro“, das ich schon immer einmal live erleben wollte und für das ich hauptsächlich gekommen war. Außerdem freute ich mich über die Stahlarbeiter-Portion Gulasch und mein kühles Radler dazu. Die Gastronomie war top. Und gegen Ende der Livemusik, als sich die Fläche ein wenig leerte, ließ ich mich nach längerer Pause zu zwei Tandas mit einem aufmerksamen und fröhlichen Herren hinreißen.

Danach war ich bettreif und machte mich auf die Heimreise. Mein verbliebenes Tanzbedürfnis habe ich dann übrigens am Folgetag auf einer beliebten Milonga in Frankfurt ganz entspannt und natürlich mit netten Menschen aufgeholt und ging zufrieden in die neue Woche.

Die Gastgeber der Schloss-Milonga selbst haben übrigens nichts falsch gemacht, sondern ganz im Gegenteil spürbar alles gegeben, um einen besonderen Abend auf die Beine zu stellen. In weiten Teilen ist ihnen das auch gelungen. Auf das Verhalten der Gäste kann man im Grunde auch nicht oder nur bedingt einwirken. Wobei… :–) Vielleicht sollte man eine Milonga-Polizei einrichten, die Rowdies konsequent aus der Ronda zieht und ignorante Stuhlbelagerer mit Sack und Pack in Richtung Garderobe beordert, denn schließlich besuchen sie eine Milonga und nicht etwa eine Turnstunde der 4c.

Als Ursache der Rücksichtslosigkeit und latente Aggressivität vermute ich jedenfalls, dass gerade ein so elegantes und dem Namen nach „royal“ anmutendes Ambiente leider auch im Nebeneffekt einige aristokratisch tickende Leute anlockt, die sich selbst als elitär und elegant definieren, ohne sich der Bedeutung und der Anforderungen solcher Attribute auch nur ansatzweise bewusst zu sein. Sie hören oder lesen, wie in diesem Fall, das Schlagwort „Schloss“ und finden aufgrund einer anmaßend-narzisstischen Grundhaltung, dass sie genau da hin gehören, ohne aber auch nur den Hauch einer Ahnung von dem historischen Hintergrund dieses Bauwerks zu haben oder echte Wertschätzung für dieses zu hegen. Dank ihrer überblähten Egos sind sie es jedoch gewohnt, in sämtlichen Lebensbereichen ihre Ellbogen einzusetzen und handhaben das dann als eine Art einigermaßen „bewährtes Mittel“ automatisch auch im Tango so. Anschließend wackeln sie zufrieden nach Hause, beglückwünschen sich innerlich selbst, einen erfolgreichen und glanzvollen Abend erlebt zu haben und blenden gleichzeitig aus, wie vielen anderen sie mit ihrem Egoismus und Platzhirschgetue die Stimmung getrübt haben. Ihnen bleibt zu wünschen, was sie sich im Grunde selbst ersehnen – ein leeres Parkett ganz für sich allein….

Die erwähnte Milonga ist nur ein Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit. Es gibt viele Milongas, auf denen Tänzer mit sozialen Defiziten und Persönlichkeitsstörungen aufschlagen. Erfahrungen wie diese erinnern mich aber immer wieder daran, dass die Eleganz als angestrebtes und gefeiertes Ideal im Tango Argentino in Wahrheit rein gar nichts mit zarten Glitzersandaletten, Perlenketten, gebügelten Seidenhemden oder paillettierten Milongakleidern zutun hat. Ebenso wenig mit der Qualität des Tanzes. Wer sich nicht zu benehmen weiß, beeindruckt auch nicht im schicken Outfit oder durch ausgefallene Bewegungen, sondern fliegt schnell auf. Denn Tanzen ist Ausdruck des Wesens eines Menschen und einen miesen Charakter kann man letztendlich nur schwer camouflieren. Wahre Eleganz hat ohnehin nichts mit Mode, (eingebildeten oder tatsächlichen) Tanzniveaus oder sozialem Status zu tun. Vielmehr ist sie Ausdruck einer inneren Geisteshaltung, die bestimmte Tugenden aufweist, die gerade unter Überwindung des eigenen Egos und der niederen Triebe zum Tragen kommen. Diesen kann eine Putzfrau ebenso wie eine Professorin gerecht werden und unter Umständen ist Erstere darin sogar besser. Und ja, ich vermeide bewusst verkappte Bezeichnungen wie Reinigungskraft, denn mit denen wollen sich Verwender meist nur selbst ehren und suggerieren einen Respekt gegenüber solchen Berufsgruppen, die sie in Wahrheit aufgrund ihrer Vogelperspektive gar nicht haben.

Sich zu rasieren, vor dem Kleiderschrank elegant rauszuputzen und Make-up aufzulegen ist keine große Kunst. Wenn man anderen körperlich nahe kommen möchte, versteht es sich von selbst, gepflegt in Erscheinung zu treten. Weitaus schwieriger ist es da, seinen Mitmenschen mit Rücksichtnahme, Geduld, Verständnis, Großzügigkeit und anderen sozialen Kompetenzen wohlwollend zu begegnen. Sind es nicht letztendlich genau diese Dinge, die den Tango elegant und wertvoll machen?

Mich würden eure Erfahrungen zum Thema Pogo-Tango interessieren.

Solo con Tango

Ohne festen Tanzpartner Tango Argentino zu erlernen, ist alles andere als leicht.

Da ich aus eigener Erfahrung sehr genau weiß, wie schwer es ist, Rückschläge und menschliche Enttäuschungen zu erleiden und sich ohne Hilfestellung oder besondere Privilegien immer wieder aufs Neue zu motivieren, habe ich grundsätzlich mehr Respekt vor den Lernerfolgen und den Fähigkeiten Solo-Lernender als vor Tänzern, die eingebettet in langfristigen und soliden Tanzpartnerschaften den Tango „safe“ praktizieren. Solo-Lernende sind sozusagen die Alleinerziehenden unter den Tänzern. Sie haben alle Hände voll zu tun, um voran zu kommen. Man kann es drehen und wenden wie man will und ich möchte da auch niemanden vor den Kopf stoßen. Aber Paare haben es einfach leichter, die notwendigen Techniken systematisch und schnell zu erlernen. Aber eben nur die Technik. Wie wir alle wissen, ist Tango weit mehr als das!

Feste Tanzpaare vergeuden ihre Energie jedenfalls nicht für die Suche und laufen auch nicht Gefahr, an Leute zu geraten, die sie beispielsweise übervorteilen oder ausnutzen wollen. Wie in Watte gepackt erforschen sie – stressfrei und kontinuierlich – den Tango, haben im Grunde immer jemanden zum Üben verfügbar, bündeln ihre Ressourcen, teilen sich oftmals die Fahrt zum Kurs, zu Milongas und Festivals etc. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann tanzen sie ihren unaufregenden Tango noch heute. Gähn…

Das ist keineswegs zynisch gemeint, sondern entspricht lediglich meiner Beobachtung. Ich habe unweigerlich viele solche Paare beobachtet. Sie erlernen, je nach Kompetenz ihrer Lehrer, durchaus einen auf den ersten Blick ansehnlichen Tango, wirken aber bei näherer Betrachtung oft irgendwie auch gelangweilt und leidenschaftslos. Als würden sie im heimischen Wohnzimmer napflixen.

Manche von ihnen, insbesondere Tanzpaare, die auch eine Lebenspartnerschaft oder Ehe miteinander pflegen, tanzen sogar ausschließlich miteinander. Diese Art von Exklusivität ist natürlich ihr unbestreitbares Recht, aber nach meinem Verständnis sind das keine wirklichen Tangotänzer, sondern vielmehr Performer, die durch ihr Eingespieltsein meist schon relativ genau wissen, welcher Figur der Führende als nächstes plant oder wie der Folgende reagiert. Denn unbewusst etabliert man beim Tanzen dieselben oder ähnliche Bewegungsmuster, vor allem wenn man zu bekannteren und häufig gespielten Musikstücken tanzt. Irgendwann stagniert die Entwicklung unweigerlich. Selbst bei Profi-Paaren, die nur oder hauptsächlich miteinander trainieren, kann man dieses Phänomen beobachten.

Mein Lehrer erläuterte im Gruppenunterricht einst sinngemäß, einmal mit einer fremden Tanzpartnerin zu üben sei so effektiv wie zehnmal mit der eigenen Partnerin zu tanzen. Er hatte Recht, auch wenn ich das als Anfängerin noch nicht verstand. Tanzen zwei Personen immer nur ausschließlich miteinander, ist das irgendwie so als würden sie eine Geheimsprache austüfteln. Sie machen es sich in einer gemeinsamen Komfortzone bequem oder schließen die Tür ab. So entsteht ein in sich geschlossenes System, in das kaum neuen Impulse vordringen bzw. vordringen können. Letztendlich leben sie den Tango nicht, sondern imitieren ihn vielmehr, obwohl ihr „Werkzeugkasten“ technisch gesehen gut bestückt ist. Aber sie schöpfen ihn aus Bequemlichkeit und anderen Gründen kaum aus.

Wenn man nur mit einem einzigen Menschen Tango tanzen kann, hat man den Tango nicht sonderlich tiefgreifend erforscht, sondern kratzt immer nur an der Oberfläche. Dieses Eingespieltsein solcher Paare hat meines Erachtens mit Tango nicht viel zu tun. Tango ist ein Improvisationstanz, in welchem kein Moment dem anderen gleicht. Zudem geht bei solchen Konstellationen der soziale Faktor, um den es im Tango de Salón schließlich geht, faktisch gegen null. Früher habe ich feste Tanzpaare zugegeben beneidet und mir wehmütig jemand Passendes gewünscht, der diesen Weg mit mir als eine Art Sportsfreund teilt. Heute bemitleide ich sie eher, denn sie tanzen neben der Community her ohne wirklich Teil davon zu sein.

Wenn gerade kein Trainingspartner verfügbar ist,
muss zur Not auch mal eine alte Lok für Voleos herhalten. :–)

Als „Einzelkämpfer“ lebt man hingegen alles andere als isoliert und in Watte gepackt, sondern nicht selten durch Schmerz und wird in vielerlei Hinsicht geformt und abgehärtet. Nicht nur tanztechnisch, sondern auch charakterlich. Das ist alles andere als angenehm und nicht jeder Mensch ist dafür geschaffen und stark genug, Tango auf diese Weise zu erforschen. Aber der Stress lohnt sich, denn sich überwiegend alleine zu organisieren, verbessert auch die eigene Problemlösungskompetenz, wovon man auch in anderen Lebensbereichen profitiert. Insofern wäre eine langjährige feste Tanzpartnerschaft für mich nicht nur nicht mehr erstrebenswert, sondern würde meine weitere Entwicklung und Reise zum Tango nur behindern. Für Pragmatiker mag das sinnvoll sein, aber für Idealisten und Abenteurer hat das keinen großen Reiz.

Das Einzelkämpferdasein bringt manchmal sogar besondere Talente hervor. Ein Beispiel:

Bei einem Tango-Marathon in der Nähe von Koblenz etwa hatte ich vor einigen Wochen eine der schönsten Tandas mit einer sehr sympathischen jungen Tänzerin. Sie konnte hervorragend führen und tanzte außerordentlich temperamentvoll und musikalisch. Viele andere Frauen, mit denen ich bisher getanzt habe, haben meist irgendwie Hemmungen oder Berührungsängste, vor allem in der Abrazo, was hauptsächlich bestimmten anatomischen Begebenheiten geschuldet ist. Aber diese sind nur ein Problem, wenn man sie künstlich zum Problem macht. Die Dame war jedenfalls selbstbewusst und hatte eine sehr gute und ehrliche Umarmung. In ihrer gesamten Art war sie kongruent und authentisch. So stellten wir entspannt und natürlich die perfekte Verbindung her und schufen damit die Basis für einen schönen Tanz. Ich fragte sie hinterher, wo sie gelernt hat so gut zu tanzen und vor allem – was wirklich außergewöhnlich ist – so souverän zu führen. Sie antwortete, dass sie in einer kleinen Tanzschule gelernt hatte, in der es viel zu wenige Männer gab. Sie wollte aber einfach unbedingt tanzen und so lernte sie eben selbst zu führen. Sie beherrscht nun beide Parts, ist Führende und Folgende, und zwar jeweils auf hervorragendem Niveau. Einfach nur cool.

Anderes Beispiel:

In den deutschen Communities wird teilweise sehr schmutzig um Tanzpartner gefeilscht und gestritten. Konkurrenzkämpfe, Manipulation, Intrigen, Diebstahl etc. sind da leider an der Tagesordnung. Ich nenne dies die Dunkle Seite des Tango, über die durch seine romantische Verklärung so gut wie nie gesprochen wird. Aber sie existiert und ist genauso Teil der Tangogesellschaften wie Kriminalität ein Teil der Gesellschaft ist. Wer einen patenten Tanzpartner ergattert hat, muss oft um ihn fürchten. Denn die Konkurrenz schläft niemals und manche Menschen gehen über Leichen, um Tango zu lernen. Ein sehr erfahrener und etablierter Tänzer meiner Community erleuchtete mich einst in meiner Naivität: „Niki, wenn du wüsstest, was manche Frauen alles tun, um Tango zu lernen….das ist einfach nur widerlich…..“

Sich auf solche Spiele einzulassen, kam und kommt für mich nicht in Frage. Beispielsweise mit einer anderen Tanguera um einen Tänzer zu kämpfen, würde diesen nur auf unadäquate Weise erhöhen und mich zugleich erniedrigen. Egal wer den (hypothetischen) Kampf gewänne, hätte ihn im um Grunde zugleich verloren. Denn der Kampf erzeugt eine Schieflage, in der die Begegnung mit dem gewonnenen „Objekt der Begierde“ auf Augenhöhe kaum mehr möglich wäre. Eine für mich inakzeptable Ausgangslage. Stress und Verlustängste sind kein fruchtbarer Boden für schönen Tango.

Anstatt meine Zeit und Energie also mit der Suche oder Verteidigung eines festen Tanzpartners oder sonstige komplizierte soziale Verstrickungen zu verpulvern, begann ich nach alternativen Möglichkeiten zu suchen, mich im Tango weiterzuentwickeln. Die meisten Tangostudios in meiner Gegend konzipieren ihren Unterricht so, dass die Kursteilnahme einen festen Tanzpartner zwingend erfordert. Eine ziemlich fette Schranke, die viele Lernwillige schlicht vom Unterricht abhält. Und Privatunterricht kommt für viele aus wirtschaftlichen Gründen nicht als Dauerlösung in Frage. Ich lernte letztes Jahr durch Zufall einen Tangolehrer in Griechenland kennen, der seinen Gruppenunterricht im Rotationssystem organisiert. Dies bedeutet, dass es in den Kursen keine festen Tanzpaare gibt, sondern alle Schüler als Individuen erscheinen und ein Thema, also eine Figur oder Kombination, innerhalb einer Unterrichtseinheit mit wechselnden Partnern geübt wird. Eventuell zeige ich in einem anderen Post die Vorzüge dieser Methode näher auf. Während meiner Aufenthalte in Griechenland besuchte ich diese Schule eine zeitlang, tauchte in die Community ein, entwickelte eine neue, erfrischend positive sowie einladende Perspektive auf den Tango, wie ich sie bis dahin gar nicht kannte und schon nach kurzer Zeit hatte ich neue Tangofreunde, die mich warmherzig akzeptierten. Nun denken einige vielleicht: So what? Die Autorin ist doch auch Griechin. Richtig, zwar ist Griechenland – so wie auch Deutschland – meine Heimat, aber mich alleine in einer fremden Stadt, in einem fremden Studio, mit fremden Leuten und auch ungewohnter Unterrichtssprache zu begeben, war für mich mit viel Aufwand und Selbstüberwindung verbunden.

Aber die Mühe, die man sich als Solo-Lernender macht, lohnte sich. Mit einem festen Tanzpartner an meiner Seite wären mir kausal viele spannende Abenteuer und inspirierende Begegnungen entgangen. Deshalb möchte ich jeden, der seine Partnerlosigkeit als Mangel oder Behinderung wahrnimmt und vielleicht im Moment damit hadert, ermutigen: Bleib am Ball und verzage nicht! Im Tango bist du nie allein.

DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner