Das Urteil des Stadtpark-Prozess am Landgericht Hamburg sorgt zurzeit für jede Menge Zündstoff in der öffentlichen Debatte.
In der Nacht vom 19. auf den 20. September 2020 haben sich mehrere Männer im Alter von 19 bis 21 Jahren im Stadtpark Hamburg sexuell an einem 15-jährigen Mädchen vergangen. Die Täter sollen ihr wehrloses Opfer im Wechsel stundenlang vergewaltigt haben und sich dabei sogar teilweise gegenseitig gefilmt haben, wobei die Videos unwiederbringlich gelöscht wurden. Keine Zeugen. Keine Anzeichen von Gewalteinwirkung. Wichtigstes Indiz: die Spermaspuren an der Kleidung des Mädchens, welche neun der Angeklagten zugeordnet werden konnte, jedoch keine Aussage darüber enthielten, ob der Geschlechtsverkehr einvernehmlich war oder nicht (→ wie bzw. unter welchen Kriterien DNA-Mischspuren als Beweismittel gewürdigt werden, kann zum besseren Verständnis beispielsweise in diesem BGH-Urteil nachgelesen werden).
Die Ermittlungen galten in diesem Fall als besonders schwierig, doch die Jugendstrafkammer verkündete am 28.11.2023 folgendes Urteil: Neun der zehn Angeklagten wurden für schuldig befunden, einer wurde freigesprochen. Bereits zuvor war ein ursprünglich elfer Tatverdächtiger freigesprochen worden. Gegen einen der Verurteilten wurde eine Freiheitsstrafe und gegen acht Vorbewährungen zwischen einem und zwei Jahren verhängt. Vier der Verurteilten besaßen die deutsche Staatsbürgerschaft und fünf hatten ausländische Staatsbürgerschaften, wobei die Staatsangehörigkeit bei zwei der Täter offenbar zunächst unklar war. In einem anderem Bericht sollen es hingegen fünf Deutsche gewesen sein, die Übrigen waren ein Syrer, ein Montenegriner, ein Kuwaiter, ein Afghane sowie ein Armenier. Die Auflistung mutet zwar wie der Anfang eines Witzes an – zu Lachen gibt es bei diesem Fall jedoch nichts.
Die vorsitzende Richterin wird seither im Netz massiv angefeindet und bedroht. In der Wahrnehmung der Öffentlichkeit seien die verhängten Strafen viel zu gering. Hierzu ist zu erwähnen, dass § 18 Absatz 1 Satz 1 Jugendgerichtsgesetz (JGG) einen Strafrahmen von sechs Monaten bis zu fünf Jahren vorsieht, wobei gemäß § 18 Abs. 2 JGG die Jugendstrafe so zu bemessen ist, dass die erforderliche erzieherische Einwirkung möglich ist. Denn im Jugendstrafrecht stehen nicht etwa Sühne oder Vergeltung im Vordergrund, sondern die Resozialisierung des Täters. Das bedeutet, vereinfacht ausgedrückt, dass der jugendliche Straftäter die Chance erhalten soll, seine Tat zu bereuen und wieder auf den rechten Pfad zurückzukehren. Die internationale Forschung ist schon lange zu dem Ergebnis gelangt, dass härtere Strafen Straftaten generell nicht verhindern. Insbesondere bei Jugendlichen haben sie laut Hirnforschung keinen abschreckenden Effekt. Harte Strafen erfüllen laut dem Soziologen und Kriminologen Dietrich Oberwittler „primär symbolische Bedürfnisse der Bekräftigung moralischer Normen (acting out), können jedoch Kriminalität kaum verhindern“.
Über einen Großteil der Berichterstattung kann man jedenfalls nur den Kopf schütteln. Die TAZ hält sich in ihrem Artikel vom 1. Dezember nicht lange mit dem Sachverhalt auf und geht direkt dazu über, die Richterin als Heldin zu feiern. Den Begriff „Opfer“ sucht man im gesamten Text vergeblich, nicht einmal das „Mädchen“ wurde als solches bezeichnet. Für die Redaktion ist sie bloß die „15-Jährige[n]“. Das stimmt nachdenklich.
Die juristische Fachwelt schlägt sich nach meiner Beobachtung überwiegend auf die Seite der Richterin, als ginge es um widerstreitende Lager (wütender Mob versus Juristen?), und verteidigt das Urteil der Jugendstrafkammer, was nicht wirklich überrascht. Auch der Hamburger Richterverein verteidigte mit entsprechender Presserklärung vom 29. November die Richterin und verurteilte die Attacken und Gewaltaufrufe gegen sie. Leider hat man es auch hier versäumt, ein paar ebenso mitfühlende Worte zugunsten des Opfers und dessen Angehörige hinzuzufügen.
Das Portal Nius.de greift das Thema gemäß populistischer Tradition reißerisch und emotionalisierend auf und reitet undifferenziert auf den Migrationshintergrund aller Angeklagten herum, jedoch geht es überraschenderweise keineswegs bloß um Hetze, sondern man schneidet immerhin auch die Bedeutung der Tat für das Opfer an. Von „Demütigung“ und „Martyrium“ ist hier die Rede. Eine nähere Auseinandersetzung blieb zwar aus, aber wenigstens verlor diese Redaktion das Opfer nicht komplett aus den Augen.
Dass in den Medien und in der öffentlichen Debatte nun fast ausschließlich die Richterin in den Fokus gerückt wird, ist bizarr und irgendwie respektlos gegenüber dem Opfer und dem, was es erleiden musste. Zunächst dachte ich wohlwollend, dass die Leute aus Schamgefühl die Taten und ihre Umstände ausklammern und gewissermaßen dissoziieren, weil die Brutalität kaum zu ertragen ist. Aber nachdem ich mir im Internet näher angeschaut habe, welche Meinungen die Leute zu dem Fall so von sich geben, habe ich mittlerweile vielmehr den Eindruck, dass viele von ihnen in Wahrheit null Interesse an dem Geschehenen haben, sondern nur auf den vorbeifahrenden Hass-Zug aufspringen, weil er es ihnen ermöglicht, sich willkürlich aber dafür umso lauter zu empören, nur weil sie gerade ein Ventil für ihre eigenen Probleme oder eine Bühne für ihr narzisstisches Mitteilungsbedürfnis benötigen. Alle wollen da irgendwie mitmischen und vorzugsweise hassen, egal ob es die Richterin trifft, die im Grunde nur ihre Arbeit verrichtet, die Täter oder die Politiker die angeblich nichts tun wollen, um ihre Bürger zu schützen. Hauptsache mithaten! Von der psychosozialen Dynamik ist da im Grunde kein allzu großer Quantensprung zwischen denen, die im Hassrausch schwelgen und der angeprangerten Gruppenvergewaltigung.
Leider macht sich kaum jemand noch die Mühe zu recherchieren, was da genau in dieser Nacht passiert sein könnte, wie der Tathergang ausgesehen haben könnte, wie sich das Opfer in diesen qualvollen Stunden gefühlt haben muss, wie es seine zukünftige Entwicklung prägt und – ja – auch wie die Täter mit der Tat und dem Prozess leben müssen. Auch Letzteres kann und darf man hinterfragen, sofern man überhaupt ein aufrichtiges Interesse daran hat, die Dimension der Geschehnisse zu begreifen. Nein, stattdessen kollidieren in sämtlichen Social Media und Kommentarbereichen der Nachrichenportale der wütende Mob, Juraroboter, pietätlose Journalisten und andere emotionale Einzeller. Traurig.
In Griechenland debattiert die Öffentlichkeit ihre Verbrechen übrigens nach meiner Beobachtung etwas anders, um mal einen kurzen Vergleich zu ziehen. Zwar tauscht man sich ebenfalls sehr emotional aus und teilweise sogar emotionaler, aber weitestgehend ad rem, also zur Sache. Insbesondere wenn Kinder oder junge Menschen betroffen ist. So etwa im Mordfall Caroline, der vor zwei Jahren für Entsetzen gesorgt hatte, als eine junge Frau von ihrem Ehemann im Beisein ihres gemeinsamen Babys ermordet wurde.
Hierzulande ist man leider immer sehr schnell sehr weit weg vom eigentlichen Thema, was gewisse Zweifel an der Empathiefähigkeit der deutschen Gesellschaft weckt.
Ein gut recherchierter Artikel und der bisher einzige, der das Thema mit dem gebotenen Feingefühl und journalistischem Verantwortungsbewusstsein behandelt, ist jedenfalls im Abendblatt nachzulesen. Erst durch diesen Artikel erfuhr ich bei meinen Recherchen wie der Name des Opfers lautete: Sabine. Durch die Tat sei in Sabine etwas „gestorben“, gab sie an. Sie leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Im Übrigen missbillige ich die Art und Weise, mit der sämtliche Kritiker des Urteils und des Strafmaßes über einen Kamm geschert werden. Nicht nur Juristen, die imstande sind, den Prozess in seiner Komplexität zu verstehen, haben das Recht auf eine Meinung, sondern jeder. Die Meinungsfreiheit ist ein grundlegendes Menschenrecht. Die Meinung und das Rechtsempfinden von Juristen und Richterkollegen steht auch keinesweg über die der übrigen Bürger, auch wenn dies gerne so suggeriert wird. Sollte ein demokratisches Rechtssystem im Laufe seiner Entwicklung tatsächlich zu kompliziert geworden sein, sollte ein Weg gefunden werden, es dem Verständnis durch den Bürger zugänglich zu machen. Da sind klar Gesetzgeber und Bildungspolitik gefragt. Denn schließlich ergeht das Urteil nicht im „Namen der Rechtsexperten“, sondern bekanntlich Im Namen des Volkes.
