Der Nächste, bitte!

Der Nächste, bitte! – Plädoyer für die Abschaffung der festen Tanzpartnerschaft als zwingendes Erfordernis zur Teilnahme am Gruppen-Unterricht von Tanzschulen für Tango Argentino:

Zugegeben, der Betreff ist hochtrabend, trocken und formell formuliert. Überhaupt nicht tangolike. Wer sich an Formalitäten grundsätzlich stört, möge sich aber ebenso gut gerne einmal mit der fragwürdigen Formalität eines festen Tanzpartners auseinandersetzen. Gleichermaßen hochtrabend, trocken und formell finde ich nämlich Hinweise auf Webseiten von Tangoschulen wie etwa:

„Anmeldung bitte nur paarweise“.

Oder auch „Es werden nur Anmeldungen mit Partner akzeptiert“.

Oft liest man auch: „Wenn du keinen Tanzpartner hast, helfen wir dir gerne, einen zu finden.“

Bla bla bla… Ein echt stattlicher bürokratischer Bremsklotz für alle Solo-Lernenden und ein regelrechter Killer für jede motivierte Tangoseele!

Mein folgender Appell richtet sich primär an kompetente Tangolehrerinnen und -lehrer von Format. Sie sind diejenigen, die den Takt für die Unterrichtskultur im Tango angeben.

Aber viele Tangueros und vor allem Tangueras kennen die Problematik selbst nur zu gut: die Suche nach einem passenden Tanzpartner.

Es ist schwer bis unmöglich jemanden zu finden, der körperlich und menschlich zu einem passt. Viele Tanzpartnerschaften gehen mit der Zeit in die Brüche, oft früher als erwartet. Viele, vor allem Frauen, lassen sich erniedrigen oder erniedrigen sich mangels Selbstachtung selbst, um einen guten Tanzpartner zu finden oder zu halten. Durch den Führendenmangel, der vielerorts herrscht, werden die Herren – meist führen sie in der Rollenverteilung – fast automatisch in eine Machtposition erhoben, welche manche von ihnen schamlos ausnutzen. Ein großer Missstand in der Tangoszene übrigens, der zwar bekannt ist, aber leider kaum Beachtung findet.

Aus eigener Erfahrung weiß ich, das alles muss nicht sein. Denn es geht auch anders. Seit einiger Zeit besuche ich mit großer Begeisterung eine Tangoschule in meiner anderen Heimat, Griechenland. Genauer gesagt in Korinthos auf der Halbinsel Peloponnes. An dieser gibt es das Problem mit der Tanzpartnersuche gar nicht. Denn mit einem festen Tanzpartner erscheint dort nämlich niemand im Unterricht. Man ist Individuum und nicht Paket.

Es wird dort munter rotiert, wobei der Lehrer meist entscheidet, wann es Zeit ist zu wechseln oder wer als nächstes mit wem tanzt. Natürlich gibt es auch dort eine zahlenmäßige Geschlechterdiskrepanz unter den Kursteilnehmern, aber jeder Herr übt im Laufe der Stunde mal mit jeder Dame die vorgegebene Figur/Kombination.

Der Herrenmangel ist insofern kein spürbares Problem. Die freien Damen machen eine kurze Pause, trinken einen Schluck oder üben für sich ein bisschen an der Stange. Letzteres macht nicht nur Spaß, sondern räumt das Gehirn auf, wenn es mit dem Unterrichtsthema nicht auf Anhieb klappt. Da entstehen bis zum nächsten Partner meist keine langen Wartezeiten, die es zu überbrücken gilt.

Natürlich sollte kein allzu extremes Ungleichgewicht zwischen Führenden und Folgenden herrschen. Wie hoch dieses maximal sein darf, damit das funktioniert können Statistiker gerne berechnen. Da will ich keine Empfehlungen aussprechen.

Die Unterrichtsatmosphäre wirkt durch die regelmäßige Rotation nicht nur entspannter, sondern sie ist auch definitiv entspannter und auch persönlicher, aber keineswegs chaotisch, wie man vielleicht meinen könnte.

Selbst wenn mal Frust beim Lernen einsetzt, weil etwas nicht so recht klappen will, kann man bald wieder zu jemandem wechseln, mit dem diese Figur vielleicht besser funktioniert. Durch den steten Partnerwechsel weht ständig ein frischer Wind. Dennoch ist der Unterricht ganz klar konzipiert und strukturiert.

Es geht mir ums grundsätzliche Prinzip. Bis dato hatte sich nämlich der Irrglaube in mein Gehirn eingebrannt: „Ich muss einen Tanzpartner finden. Ich muss einen Tanzpartner finden.…“

Aber warum überhaupt? Ok, bei Tango Escenario z.B. macht es natürlich Sinn, anlässlich eines Showauftritts zielorientiert mit einem bestimmten Partner zu trainieren. Aber in den meisten Schulen in Deutschland wird Tango de Salón unterrichtet, was als ein Einstieg auch sinnvoll ist. Da werden die Schüler, allenfalls auf die Besuche von Milongas vorbereitet, wo die meisten Gäste mehrmals den Tanzpartner wechseln.

Warum bitteschön herrscht dann im Tanzkurs Monogamie, wenn man – als eines der Lernziele – mit verschiedenen Partnern tanzen können soll? Das erscheint mir unlogisch.

Ich bin der Überzeugung, dass mit der Aufhebung des Tanzpartnerzwangs 1. man unabhängig von anderen ist, 2. die grundsätzlichen Schwierigkeiten bei der Suche nach dem passenden Partner komplett entfallen, 3. man die dadurch eingesparte Energie und Zeit in den Lernprozess investieren kann, 4. der Machtmissbrauch gekappt wird, da gleiche Bedingungen für beide Lager (Führende und Folgende) und somit alle Lernenden herrschen, 5. man insgesamt schneller lernt, weil man neue Elemente, Figuren und Bewegungsabläufe gleich mit verschiedenen Partnern anwendet und 6. im Nebeneffekt der Gruppenzusammenhalt nicht nur gestärkt wird, sondern dieser überhaupt erst entsteht, denn im Unterricht der meisten Schulen gibt es faktisch kein echtes Zusammengehörigkeitsgefühl, da jedes Paar mit Scheuklappen sein eigenes Ding durchzieht.

Wer wiederum wirklich nur exklusiv mit seinem eigenen Lebenspartner lernen und diesen nicht mit anderen „teilen“ will, hat entweder die Möglichkeit, seine Scheu oder Eifersucht zu überwinden und es trotzdem mal zu versuchen, was im Tango generell sinnvoll ist, oder es bleibt die Möglichkeit, gemeinsam Privatsunden zu nehmen. Nach ihnen allein sollte sich die Unterrichtsstruktur im Kurs, aber auch die Unterrichtskultur keinesfalls richten. Das würde durch die Bank weg sämtliche Solo-Lernende diskriminieren.

Als solche fühle ich mich, um das mal ganz deutlich zu sagen, nämlich massiv zurückgestellt durch das Erfordernis der festen Tanzpartnerschaft.

Hätte ich nicht die Initiative ergriffen und Schulen mit anderen Unterrichtsmethoden eine Chance gegeben, würde ich noch heute – ohne den Hauch einer kontinuierlichen Unterrichtsmöglichkeit – meine wertvolle Zeit und Energie mit der Partnersuche vergeuden und vertrauensselig sowie vergeblich auf zweifelhaften Wartelisten mit intransparenten Vergabekriterien für einen passenden Tanzpartner stehen und zwar bis ich alt und grau bin….

Stattdessen übe ich in großzügigen 90 –  120-minütigen Kursstunden endlich neue Sachen, lerne z.B. Planeos, Volcadas oder die korrekte Beinführung bei Barridas. Ok, für viele fortgeschrittene Tänzer ist das nichts Besonderes, aber an deutschen Tangoschulen war ich lange Zeit vom Unterricht ausgeschlossen und stagnierte in meiner Entwicklung, sodass ich fast vom Glauben abgefallen wäre.

Ich habe nun endlich einen riiiesen Spaß am Lernen und wünschte, es gäbe in meinem Umfeld in Deutschland wenigstens eine einzige Tangoschule, in der man das auch so handhaben würde, sodass ich dieselbe Freude in meiner anderen Heimat erleben könnte.

Liebe Maestras und Maestros, ich möchte Tango lernen! Bei euch und mit euch! Hört also bitte auf, mich durch unzeitgemäße Konzepte vom Unterricht auszuschließen!

Faszination Tango-Community – Teil 3

La Ronda - AI-created

Tango-Community als Religionsgemeinschaft

Stellt man auf Zielsetzung und Konsens einer Gruppe ab, sind – auf den Tango angewandt – wir Tangotänzer und -begeisterte uns im kleinsten Nenner darin einig, dass dieser *Trommelwirbel* schlicht im Tango besteht. :–) Gemeint ist insbesondere das Teilen der Begeisterung, also das Tangotanzen sowie das Schaffen und Hören von Tangomusik. Tango wird von uns munter gefeiert und kultiviert. Arme und Reiche tanzen miteinander. Faschisten und Humanisten liegen sich in den Armen. Ebenso Akademiker, Arbeiter sowie Erwerbslose. Jeder mit jedem. In der Abrazo spielt das alles keine Rolle. Als entstünde in oder besser ausgedrückt mit der Umarmung eine neue Dimension. Dort angelangt, zählt nur das Gefühl an sich, das Gefühl, mit diesem anderen Menschen physisch und seelisch zu verschmelzen, selbst wenn es nur für 12 Minuten ist. Dieses tiefe Bedürfnis nach Zusammengehörigkeit geht weit über die profanen weltlichen Kategorien hinaus, über die sich die Menschen ansonsten gerne definieren oder zanken. Pure Gravitation….

Des Weiteren besteht gemeinhin Einigkeit darüber, dass Tango Argentino nicht allein im Verborgenen, sondern nur in einer Gemeinschaft adäquat und frei gelebt werden kann. Für sich allein kann man zwar Technik üben und perfektionieren, aber Tango tanzt man erst, wenn man ihn in einvernehmlicher(!) Umarmung gemeinsam tanzt.

Vorzugsweise möchten wir ihn zwar in Salons ausleben, die geradezu wie religiöse Tempel fungieren. In der Tangodimension fungieren sie ein bisschen als Kirchen, d.h. sowohl institutionell als auch physikalisch. Prächtige Räume und Säle mit Symbolcharakter laden den Betrachter regelrecht ein einzutreten und suggerieren ihm zugleich, dass Sinnerfüllung und Akzeptanz dort auf ihn wartet. Das ist an sich reizvoll. Und keine Sorge, natürlich rennt da niemand mit Weihrauch herum. Aber einen gewissen Kult in Form von Riten und Gepflogenheiten gibt es da durchaus. Und gepredigt wird auch munter und in jeder Ecke – vor allem viel Nonsens während der Tanzpausen. Das gehört zum guten Ton.

Die aufmerksamen Leser unter Euch ahnen vielleicht schon, worauf ich hinaus will. Am ehesten lässt sich der Tango mit dem Christentum vergleichen. Das Christentum hat zwar nicht das Patent einer Definition von Gemeinschaft generell inne, aber bei der Definition einer Tango-Community samt ihren Kriterien durchaus und zwar vor folgendem Hintergrund:

Da Tango sich in christlichen Kulturkreisen entwickelt hat und diese Religion –neben dem griechisch-römischen Wertesystem des Humanismus – stark das gesellschaftliche und rechtliche Ordnung mitprägte und bis heute prägt, ist es nur legitim und folgerichtig, die Frage, ab wann eine Tango-Community als soche besteht und welche Kriterien sie auszeichnet, anhand christlicher Maßstäbe zu beurteilen und befriedigend zu klären. Dass der Tango in seinen Anfängen auch anderen kulturellen Einflüssen unterlag und heute in fast allen Kulturkreisen gelebt wird, soll durch die nachfolgenden Überlegungen keineswegs in Abrede gestellt werden. Hier geht es lediglich um die Frage nach der Natur und Organisation der Tango-Community. Und das Christentum ist ihrer Bezeichnung unstreitig inhärent:

Nenne mir ein Wort und ich beweise dir, dass sein Ursprung griechisch ist! :–)

Die frühen Christen definierten sich stark über die Vorstellung einer Gemeinschaft. Auch über größere Distanzen betrieben sie Networking, verbreiteten die Frohe Botschaft und die Geistlichen schrieben sich fleißig Briefe. Auch lange vor dem Computerzeitalter wurde munter gechattet, getwittert bzw. geXt, wenn man so will. (Was war eigentlich an „Twitter“ so falsch, Elon?) Der altgriechische Begriff „κοινωνία“, von dem der lateinische Wort cummonio sowie auch die englische community ableitet ist, enthält den Wortstamm „κοιν“, der soviel bedeutet wie „das, was man gemeinsam hat“.

Ausgangspunkt und zentrale Figur der christlichen Gemeinschaft ist, wenig überraschend, Jesus Christus und das Wort. Das Neue Testament bietet genau betrachtet drei Methoden um die christliche Gemeinschaft zu definieren:

  • Die „christliche Bedeutung“ bezieht sich auf Jesus Christus, beruft zur Geschwisterlichkeit mit dem Sohn Gottes ein, seinem Leib und Blut sowie die Anteilnahme an seinem Leid usw.
  • Die „pneumatologische Bedeutung“ konzentriert sich auf den Heiligen Geist. Die Gläubigen haben Anteil an der Natur Gottes, an der Gemeinschaft des Geistes usw.
  • Die „ekklesiologische Bedeutung“ definiert die Gemeinschaft mit der Kirche, also die Gemeinschaft der Gläubigen in Christus, die Brüder, die miteinander verschiedene Güter teilen, die gemeinschaftlichen Werke christlicher Solidarität, der Dienst des Apostels in den verschiedenen Gemeinden. Sie bildet die sozialen und rechtlichen Grundlagen für Zusammenleben der Gläubigen, für Hierarchie und Gesetzgebung.

Im Laufe der Zeit rückte die ekklesiologische Bedeutung in den Vordergrund. Insbesondere im Mittelalter.

Vergleichend auf den Tango angewandt, tritt Tango an die Stelle von Gott, Jesus und dem Heiligen Geist. Der Unterschied ist lediglich, dass hierbei kein vertikales Verhältnis besteht. Wir Tangogläubige warten insofern nicht auf Erlösung von oben, sondern erlösen uns in unserem Begehren quasi instanzlos gegenseitig, also in einem horizontalen Verhältnis. Gib mir deinen Tango – ich gebe dir meinen. Auf dem Parkett, wohlgemerkt. Es laufen unablässig Deals, wenn man es mal ganz nüchtern und unromantisch betrachtet.

Mindestzahl einer Community?

Um die Eingangsfrage zu klären, wieviele Tangotänzer es nun bedarf, um sich als Tango-Community zu qualifizieren und damit auch die Frage, ob nur zwei Menschen eine Milonga stemmen können, richtet sich in diesem Gedankenmodell schlicht danach, ab welcher Personenzahl von einer christlichen Gemeinschaft die Rede sein kann.

Unstreitig besteht sie aus mehr als nur einer Person. Aber fragen wir doch am besten mal Jesus selbst! Wenn wir sein Agieren und Reden im Neuen Testament als Referenz in die vorliegenden Überlegungen hinzuziehen, hat er seine göttliche Botschaft mit mehr als nur einem einzelnen Menschen geteilt, nämlich mit seinen zwölf Jüngern, denen er liebevoll-fürsorglich auf Augenhöhe begegnete. Laut Matthäus ist folgende Aussage Jesu überliefert, die eine hinreichend klare Antwort liefert:

„Πάλιν [ἀμὴν] λέγω ὑμῖν ὅτι ἐὰν δύο συμφωνήσωσιν ἐξ ὑμῶν ἐπὶ τῆς γῆς περὶ παντὸς πράγματος οὗ ἐὰν αἰτήσωνται, γενήσεται αὐτοῖς παρὰ τοῦ πατρός μου τοῦ ἐν οὐρανοῖς. 20οὗ γάρ εἰσιν δύο ἢ τρεῖς συνηγμένοι εἰς τὸ ἐμὸν ὄνομα, ἐκεῖ εἰμι ἐν μέσῳ αὐτῶν.“

Zu Deutsch: „Weiter sage ich euch, wenn zwei von euch auf Erden übereinkommen über irgendeine Sache, für die sie bitten wollen, so soll sie ihnen zuteilwerden von meinem Vater im Himmel. Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich in ihrer Mitte.“ – Matthäus 18:19-20

Die Sachlage ist glasklar. Es genügen folglich zwei Menschen, um eine Gemeinschaft im christlichen Sinne zu bilden.

Von einer physikalischen Kirche spricht Jesus übrigens nicht. Auf den Tango übertragen, kann dieser also ebenso gut in einem tristen Keller, im Park, am Strand oder im heimischen Wohnzimmer praktiziert werden. Der Austausch von Gedanken, Informationen und Gemütszuständen in einer Begegnungsstätte, an der man mehrere seinesgleichen vorfindet, ist zwar fruchtbarer, lebendiger und meist auch gelenkschonender als etwa ein gewöhnlicher Straßenasphalt. Aber faktisch genügen zwei „gläubige“ Seelen + der Wille Tango zu tanzen.

Eins und eins

Wo also zwei ihn miteinander tanzen, dort ist bereits eine kleine Tango-Community existent. Eine Kleinsteinheit, wenn man so will. Folgerichtig können diese zwei Menschen in dem eingehenden Gedankenspiel zweifelsohne – ohne weitere Gäste – die Milonga erfolgreich bis zum Ende stemmen, sofern sie es denn wollen, die Veranstalter nicht vorzeitig den Abend beenden oder der TDJ aus lauter Frust das Handtuch wirft. :–D

Und wenn diese beiden, gemäß den üblichen Gepflogenheiten, Tango in konzentrischen Bahnen gegen den Uhrzeigersinn tanzen, bilden sie auch fraglos eine Ronda, ungeachtet der Frage, ob diese überhaupt originär zwingend erforderlich ist. Schließlich hat die Ronda-Ordnung ihren Ursprung im Wiener Walzer, aber dies soll im vorliegenden Gedankenspiel keine Rolle spielen.

Und ich persönlich würde da noch einen Schritt weitergehen: Selbst wenn keiner der beiden Tänzer je zuvor Tango getanzt hat, könnten sie ihn folgerichtig spontan tanzen. Das hypothetische Tanzpaar tauft sich gewissermaßen gegenseitig und führt sich somit die Gemeinschaft ein bzw. begründet eine kleine Satelliten-Kommune. Denn grundsätzlich genügt es, wenn sie zur Musik gemeinsam gehen. Zwei Seelen – ein Körper – vier Beine. Einfachstes Tango-ABC. Ob sie in Zukunft tiefer in die Tangodimension eintauchen und sich ein breiteres Wissen aneignen, ist ihnen überlassen. Aber wenn sie Tango tanzen wollen und sich von der Musik getragen fühlen, sind sie zumindest für diesen Moment per definitionem Tangotänzer. Und zwar nicht mehr oder weniger als ein Meisterpaar. Mit exakt derselben Berechtigung(!), auch wenn Meistern in der Ronda aus lauter übertriebener Demut vor ihrem Können oft Vorfahrt gewährt wird oder sogar Rücksichtslosigkeiten nachgesehen wird. Dies gewährleistet die anarchistische Natur, die, wie in Teil 2 erläutert, dem Tango innewohnt.

Denn im Grunde läuft im Tango alles völlig instanzlos ab. Das ist eine Tatsache. In Abrede gestellt wird diese meist nur von anmaßenden Personen, die sich in einem besonderen Status innerhalb der Community wähnen und sich als eine tragende Säule verstehen. In Wahrheit stehen die Türen jedoch jedem jederzeit offen und zwar in beide Richtungen. Man kann eintreten und ungehindert wieder aussteigen. Tango ist keine repressive Sekte oder Ähnliches. Exkommuniziert wird da auch niemand. Und sanktioniert wird man für seinen Rückzug allenfalls durch Nicht(mehr)beachtung durch die Anderen. Kehrt man nach einer Auszeit wieder zurück, ist man in der Regel wieder willkommen. Wie ich schon im Beitrag „Milonga — Nein danke“ geschildert habe, sind Tangotänzer oft wie Kinder auf einem Spielplatz. Insofern auch nicht besonders nachtragend, was eine zeitweilige Abkehr anbelangt. Das kann ich aus eigener Erfahrung nur bestätigen.

Pflichten innerhalb der Community

Die Community ähnelt organisatorisch also dem Modell einer christlichen Glaubensgemeinschaft, die im Idealfall von Zuneigung und Nächstenliebe getragen ist oder sein sollte. Mangels echter Gottheit ist der Tango in seinen Inhalten jedoch vielmehr mit einer philosophischen Strömung zu vergleichen. Welchen Sinn und welche konkrete Werte man in ihm erblickt, wurde jedoch von keinem „Hohen Tangorat“ festgelegt. Darüber können und sollen sich die Mitglieder stets eigene Gedanken machen, um im regen Austausch miteinander den bestehenden Konsens zu wahren und nach Bedarf zu formen.

Auch wenn man mit Tango nichts zutun hat oder haben möchte, was völlig legitim ist und das Portmonnaie sowie das persönliche Zeitkonto übrigens enorm schont, so kann kann und darf niemand die kulturelle Bedeutung des Tango für die Menschheit leugnen, zumindest nicht ohne sich lächerlich zu machen. Tangomusik etwa gilt als die meistgespielte Musik des 20 Jahrhunderts. Mithin gehört Tango Argentino seit 2009 zum UNESCO Immateriellen Kulturerbe der Menschheit (Representative List of the Intangible Cultural Heritage of Humanity) und ist somit schützenswertes Kulturgut. Begründet wurde dies damit, dass er den Geist seiner Gemeinschaft auf der ganzen Welt verbreite, auch wenn er sich an neue Umgebungen und sich ändernde Zeiten anpasst.

Wenn Tangopraktizierende schon einen „Geist“ oder, um die Worte besser zu interpretieren, eine Art höhere Weisheit im Tango erblicken wollen, kann sich die Gemeinschaft nicht auf bloßes Gruppenkuscheln beschränken, sondern ist sogar zu ihrem aktiven Schutz berufen. Sonst wären Milongas beispielsweise nichts weiter als bedeutungslose und hedonistische Tanzorgien.

Liebe deinen nächsten…Tänzer!

Um also den Vergleich zur christlichen Gemeinschaft konsequent fortzuführen, ist bekanntlich Teil des göttlichen Auftrags an den einzelnen Gläubigen die Verbreitung des Evangeliums. Übertragen auf den Tango bedeutet dies, dass es die heilige Pflicht eines jeden Mitglieds ist, den Tango nicht nur heimlich und somit geizig im Verborgenen zu leben, sondern seinen Mittänzern mit Offenheit und Wohlwollen zu begegnen. In der Community geht es um gemeinsame Freude, Integration, Achtsamkeit und Solidarität. Jeder möchte gesehen und gewertschätzt werden — folgerichtig sollte niemand andere unbeachtet auf der Strecke zurücklassen. Wer nur darauf bedacht ist, seine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und sein Ego anhand der Anderen zu regulieren und aufzuwerten, agiert folglich unsozial. Sozial ist man nämlich, entgegen eines weitverbreiteten Irrtums nicht etwa, weil man so gerne in der Menschenmenge badet oder sich für seinen Tanzstil oder seine schöne Mode bewundern lässt. Dazu bedarf es weiterer Qualitäten wie Geduld, Eleganz (als innere Geisteshaltung) und Mitgefühl. Eine empathische und pflichtbewusste Tanguera registriert es beispielsweise, wenn andere Damen sich unbetanzt und enttäuscht den Hintern plattsitzen. Sofern sie mit ihrem Tanzpartner nicht liiert ist, zieht sie rechtzeitig einen Schlussstrich und gibt diesen nach zwei oder spätestens drei Tandas wieder frei. Oder anderes Beispiel: einem eleganten Tanguero ist es nicht egal, ob andere Gäste leiden; er bemüht sich, auch Anfängerinnen und Neuankömmlingen der lokalen Gemeinschaft zu integrieren, insbesondere wenn auf der Milonga sichtlich Not am Mann ist.

Ein Tänzer, der mehrere Tandas hintereinander nur mit einer und derselben Tänzerin tanzt, fällt früher oder später negativ auf und ist für mich persönlich im Grunde schon aus diesem Grund uninteressant. Völlig egal, wie gut er tanzt. Solche Egoisten haben weder Liebe (agape) im Herzen noch den Sinn von Tango verstanden bzw. verstehen wollen. Viel zu lernen sie noch haben! Leider beobachte ich in meiner Community immer wieder solche Tänzerinnen und Tänzer, die grob fahrlässig bis ignorant solche Verhaltensweisen an den Tag legen und damit negative Wellen erzeugen. Ausschließen kann man solche Mitglieder natürlich nicht, aber man kann ihr schlechtes Beispiel zumindest mit gutem ausgleichen.

Liebe ebenso deinen nächsten Nicht-Tänzer!

Das innerhalb der Community angestrebte Wohlwollen umfasst logisch auch, Nicht-Tangotänzer aktiv einzuladen, ihr Herz für diese Welt zu öffnen und sie zu interessieren. Gleichwohl aber sollte man Toleranz gegenüber Menschen an den Tag legen, die trotz einer solchen Einladung nichts mit Tango zutun haben wollen oder aufgrund von Einschränkungen nicht daran teilhaben können. Auch andere Menschen verfolgen spannende Interessen und verfügen über bewundernswerte Talente, die ein genaueres Augenmerk verdienen. Eine Frage des Respekts und der Demut.

Grundsätzlich ist es jedenfalls sinnvoll und angezeigt, wenigstens ab und zu mal den Keller oder das Wohnzimmer zu verlassen, um sich mit anderen Gläubigen oder Interessenten auszutauschen. Denn lebt man Tango nur geheim zu zweit, gibt man dessen Botschaften im Grunde nicht weiter. So erfahren die Menschen nichts von dem Glückspotenzial, welches der Tango birgt. Darüberhinaus verkäme die propagierte soziale Komponente des Tangos zu einer hohlen Phrase und ein bedeutungsvolles Kulturgut der Menschheit würde zum Aussterben verurteilt. Denn Tango lebt und stirbt folgerichtig mit seinen Anhängern.

Amen :–P

Faszination Tango-Community – Teil 2

Wer hat hier eigentlich das Sagen?

Kurz gesagt: niemand und gleichzeitig alle.

Stellt man auf die Organisation von Tango-Communitys ab, so bemerkt man als aufmerksamer und objektiver Beobachter unschwer, dass sie nicht zentral regiert werden. Im Grunde werden sie überhaupt nicht regiert. Zumindest bisher nicht. Insofern sind wir Tangomenschen herrschaftslos und frei. Das bedeutet nicht, dass wir keine Werte oder Regeln haben. Aber dazu später mehr. Betrachten wir erst einmal weiter unsere Natur. Im Grunde regeln wir alles untereinander. Ich sage es ja nur ungern, aber das macht uns zu waschechten Anarchisten!

Gleichberechtigung

Da der Anarchismus jegliche Hierarchie negiert, bedeutet das für uns, dass jeder, der im Tango aktiv ist – ganz gleich ob beruflich oder hobbymäßig – gleichberechtigt ist. Dies umfasst freilich auch das gleiche Recht, den Kurs der Community im gegenseitigen Austausch mitzubestimmen. Das Mitbestimmungsrecht ist aber nicht zu verwechseln mit einem etwaigen Wahlrecht, denn wir halten faktisch keine Wahlen ab. Insofern entfällt eine wesentliche Säule der Demokratie. Wir sind keine Demokraten, wenn es um die Frage geht, wie wir den Tango zu kultivieren. Wir kultivieren ihn einfach und die Persönlichkeit und der Wille jedes Einzelnen fließt in die Ausübung des Tango mitein und prägt diesen mit. Wie intensiv man sich einbringt, ist dabei jedem selbst überlassen. Manche Ideen erfahren Zustimmung durch andere Mitglieder – und manche wiederum finden kaum Beachtung.

An sich hat dieses System bisher prima funktioniert und würde auch weiterhin funktionieren, gäbe es da nicht gewisse Bessermachenwoller. Eine Gefahr dieser Gleichberechtigung besteht nämlich mitunter in Bestrebungen, die Interessen der Praktizierenden vertreten zu wollen, also gegenüber der Rahmengesellschaft, relevanten Institutionen und auch dem Staat. Früher erschien mir die Idee, dass Tangoprofis Berufsverbände gründen, vernünftig und sinnvoll. Zünfte, Kammern und Co. haben schließlich eine lange Tradition in Deutschland. An sich mag diese Idee auch gut gemeint sein. Aber gerade im Tango sehe ich das mittlerweile doch eher kritisch. Juristisch mag eine Interessensvertretung die Rechtspositionen der Profis stärken. Aber im weiteren Verlauf könnte daraus problemlos ein Machtanspruch zugunsten bestimmter Interessensvertreter und zugleich zulasten der kulturellen Vielfalt im Tango entspringen, wobei dieser genau genommen zu keinem Zeitpunkt durch einvernehmlichen Konsens der Community an diese übertragen wurde. Dies birgt das Risiko, dass von ihnen anmaßend und illegitim definiert und geregelt werden könnte, was genau Tango in Musik und Tanz ist und was nicht. Dies würde dem Tango ein strammes Korsett anlegen, was gerade aufgrund der Besonderheit dieses Kulturgutes nicht nur obsolet wäre, sondern auch kontraproduktiv. Und ein solches Streben könnte man dabei – theoretisch – problemlos legitim anmuten lassen, zum Beispiel durch das besondere Schutzbedürfnis des Kulturgutes oder dem Bedürfnis der Profis, von ihrer Kunst leben zu können.

Jeder Mensch wünscht sich ein sicheres Dach über dem Kopf und das tägliche Essen auf dem Teller. Aber realistisch betrachtet, ist mir persönlich kein Tangoprofi untergekommen, der vom Tango wirklich komfortabel und sorgenfrei lebt. Und diejenigen, die damit über die Runden kommen, sind ständig auf Achse und in Sorge. Denn wie alle anderen Wirtschaftszweige, richtet sich auch die Kulturbranche nach den geltenden Naturgesetzen wie etwa Angebot und Nachfrage. Tango bedient im Grunde nur eine winzige Nische. Man verpflichtet sich ihm also nicht, sofern man grundsätzlich bei Verstand ist, aus Profitstreben, sondern aus tiefer Leidenschaft. Eine brotlose Kunst ist Tango keineswegs, allerdings sind die Lebenshaltungskosten in Deutschland sowie in weiten Teilen Europas alles andere als niedrig. Reicht also etwa das Musizieren im Tangoorchester nicht aus, um davon seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, sollte man dies womöglich besser nur als Hobby betreiben oder allenfalls als Nebenjob. Zumindest ist es kein Fehler, über einen Plan B zu verfügen.

Tangoprofis streben an, vom Tango leben zu wollen. Ich sehe daher nicht, was genau ein Berufsverband konkret daran ändern könnte. Ein solcher vermag den Tango nicht aus seiner Nische zu holen. Man kann einer Kulturgesellschaft nicht künstlich aufs Augen drücken, was in weiten Teilen nicht zu ihrer Mentalität passt. Selbst mit viel Geld und Rückendeckung ist dies schwer möglich. Zurzeit versucht man mit viel medialer Agressivität, hierzulande den amerikanischen Football an den deutschen Michel zu bringen. Vorangetrieben wird das durch einflussreiche Medienunternehmen, die sehr wahrscheinlich mit kompetenten Thinktanks und Medienstrategen kooperieren. Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf: Welche auch nur annähernd vergleichbare Maschinerie und Finanzkraft können da bitteschön die Verbandsvorläufer konkret vorweisen, um den Tango in Deutschland populärer zu machen? Um ihn zu bewerben und attraktiv zu machen, benötigt man einen solchen auch nicht. Es sind nach meiner Beoachtung die einfachen Hobbytänzer, die Außenstehende in den Tango holen.

Wohin sich solche Verbandsvorläufer genau entwickeln, bleibt abzuwarten. Ich bin für gute Argumente offe, sehe das jedoch bisweilen kritisch. Fest steht jedoch, dass echte Kultur aus der Mitte der Gesellschaft und somit horizontal entsteht und lebt und nicht etwa vertikal also von oben herab gewährt oder gelenkt wird. Anderenfalls würde sich der Tango längerfristig zu einer Karikatur entwickeln, die von einigen Wenigen nach ihrem persönlichen Geschmack anmaßend und künstlich geformt würde.

Sons and Daughters of Anarchy

Begriffe wie Anarchie bzw. Anarchismus sind hierzulande negativ konnotiert. Sie werden mit Chaos und Gewalt in Verbindung gebracht. Viele denken da an Graffitischmierereien, brennende Molotowcocktails, die durch Glasscheiben fliegen, Vandalismus usw. Aber mit der dahinterstehenden politischen Philosophie hat das alles nichts zutun.

Also immer schön cool bleiben… Hier ist lediglich die Rede von Tango. Tango ist eine kleine Traumwelt, also eine abstrakte Dimension, die räumlich auf dem jeweiligen Staatsgebiet stattfindet, in welcher er praktiziert wird. Begegnen wir uns also in der Bundesrepublik Deutschland, um gemeinsam Tangomusik zu spielen oder Tango zu tanzen, so findet alles im Geltungsbereich des Grundgesetzes statt, d.h. Gewaltenteilung, die deutschen Gesetzgebung etc. gelten uneingeschränkt fort und machen vor dem Tango und anderen kulturellen Interessensgemeinschaften natürlich keinen Halt. Alles, was wir in dieser Dimension so anstellen, muss bzw. sollte idealerweise im Einklang mit der übergeordneten Rechtsordnung stehen. Und nach meiner Beobachtung tut es das in den meisten Fällen auch.

Solange wir also mit der Rechtsordnung nicht kollidieren, sind wir frei. Während des Covid19-Lockdowns und diesem ganzen 3-G und 2-G-Nonsens wurden wir Tangopraktizierende mit dieser Tatsache besonders hart und unvermittelt konfrontiert. Ich erinnere mich noch schmerzlich daran, wie ich in der Anfangsphase der Lockerungen innerhalb gekennzeichneter Kästchen auf dem Parkett getanzt habe. Ein paar Quadratmeter waren es bloß. Besser als nichts, aber Freiheit war das auch nicht gerade. Danach konnte sich die Szene nach und nach erholen und wieder entspannt entfalten, wobei einige Schulen dies wirtschaftlich nicht verschmerzen konnten.

Autonomie

Jede Community regelt ihre Angelegenheiten und Ziele also selbst. Vom Engagement ihrer lokalen Mitglieder hängt übrigens auch ab, wie lebendig sie floriert. Darauf hat jedes Mitlglied Einfluss – Nobodys genauso wie VIPs. Einzelnen Mitgliedern mag die Herrschaftlosigkeit, welche dem Geist des Tango inhärent ist, nicht so gut schmecken und möchten gerne wichtiger sein als andere. Dann gibt es wiederum solche, die sich freiwillig unterwerfen oder anderen anhänglich machen, was meiner Beobachtung nach oft nur in der kalkulierten Hoffnung geschieht, durch die vermeintliche Führungspersonen mit in den Tangoolymp erhoben zu werden. Zum Fremdschämen….

Mir wurden, vor allem in der Anfangszeit, immer mal wieder graue Eminenzen vorgestellt, die angeblich die deutsche Community mitgegründet haben sollen und insofern superwichtig seien. Da ich derartige Behauptungen im Verlaufe solcher Unterhaltungen, d.h. auf die Schnelle, nicht überprüfen konnte und mir ihr konkreter Beitrag für meine bisherige Entwicklung im Tango weder ersichtlich noch spürbar war, verzichtete ich auf den gewünschten demütigen Kniefall. Was ich nämlich trotz meiner damaligen Orientierungsprobleme in der Tangowelt zu dieser Zeit zum Glück rasch erkannte, war, dass man mit solchen signalhaften Hinweisen und das gar nicht mal sooo elegant-subtil eine Art Autorität und Machtgefälle postulierte, die ein entspanntes und respektvolles Kennenlernen auf Augenhöhe per se unmöglich machte. Um solche Konditionen und Strukturen machte ich schon immer einen großen Bogen und das würde ich auch jedem würdevollen Tänzer und empfehlen.

Gleichberechtigung

Sich über- und unterzuordnen, liegt freilich in der menschlichen Natur. Aber im Tango gibt es faktisch keine Könige, keinen Hohen Tangorat, keine Armee und keine Richter. Allerdings schlagen hier und da ein paar anmaßende Personalien auf, die gerne den Boss spielen wollen. Manchmal auch mit Entourage, um einen Herrschaftsanspruch zu suggerieren und zu untermauern. Im Grunde stellen sich solche Leute abseits der eigentlichen Community, denn sie kochen ihr ganz eigenes Süppchen, das dem freiheitlichen Wesen des Tango nicht gut bekommt.

Wer mich kennt, weiß, dass mir die Szenarien nicht so schnell ausgehen: Wenn zwei ganz gewöhnliche Hobbytänzer auf der Straße spontan, mit Herzenswärme und innerer Verbundenheit einen Tango tanzen, ist ihre bescheidene Aktion, auch wenn viele das belächeln würden, genauso(!) bedeutsam für die Bewahrung der lebendigen Tangokultur wie die Organisatoren großer internationaler Tangofestivals oder die Meisterpaare, die dort aufschlagen um sich im Blitzlicht zu sonnen. Nichts gegen unsere Maestros und Maestras. Sie beflügeln unsere Phantasien und zeigen ungeahnte Möglichkeiten auf. Selbstverständlich habe ich auch meine persönlichen Tango-Idole, aber die habe ich mir aufgrund von Besonderheiten, die mich faszinieren selbst auserkoren und treten mir außerdem auch umgekehrt mit Respekt gegenüber. Was die oben genannten Hobbytänzer auf der Straße angeht, ist ihre Darbietung vielleicht nicht so spektakulär, aber dafür authentisch, da ohne jegliches Gewinnstreben oder Anspruchsdenken, sondern aus einem tiefen Bedürfnis heraus. Wer die Gleichberechtigung aller Community-Mitglieder ernsthaft anzweifelt, hat den argentinischen Tango entweder nicht begriffen oder nicht begreifen wollen.

Community im steten Wandel

Einen fest abgesteckten Personenkreis bilden wir definitiv nicht. Wir sind kein Geheimbund. Und auch kein Dorf, auch wenn es sich manchmal so anfühlt als würde man auf Milongas und Marathons Nachbarn begegnen. Mitglieder verschwinden. Neue Mitglieder kommen hinzu. Und hier und da ein bekanntes Gesicht. Die Tango-Community ist keineswegs statisch, was ihre Mitglieder anbelangt, auch wenn wir uns manchmal, wohlgemerkt manchmal(!), gegenseitig etwas anöden. Wir schmeißen uns nicht nur wegen der bekannten Gesichter auf die Piste. Nicht nur um alte Freunde zu treffen. Nein. Zwar bieten sie Geborgenheit und damit das gewisse wohlige Wohnzimmerfeeling. Aber den meisten von uns sind neue Gesichter sehr willkommen.

Nachschub Nachwuchs

Aber woher die Gier nach neuen Tänzern? Nun, spätestens nach ein paar Jahren Erfahrung hat man alle interessanten Mittänzer gewissermaßen durch, um nicht zu sagen auch ein wenig satt. Es passiert nichts Überraschendes mehr. Mit der Zeit kennt man sich ganz gut und weiß wie der Andere führt oder sich führen lässt. Zumindest glaubt man, es zu wissen. Man sehnt sich nach dem Unbekannten und Unberechenbaren, so wie das Abenteuer einst ganz am Anfang seinen Lauf nahm. Dabei möchten sich die meisten aus reiner Bequemlichkeit weder mit der eigenen Geisteshaltung auseinandersetzen noch möchte jede zweite Woche verreisen und sich in komplett andere Tango-Kreise zu begeben, nur um neue Tänzer zu erleben. Da ist es einfacher, in die eigene Community neue Mitglieder zu locken und zu passablen Tänzern heranzuzüchten. Pragmatismus zeichnet uns aus. Der Wille ist da. Aber ironischerweise möchte sich kaum jemand wirklich die Mühe machen, einen Anfänger unter die Fittiche zu nehmen und ihn monate- oder gar jahrelang zu fördern, bis er gut genug tanzt. Erstrecht nicht, wenn man selbst einen steinigen Lernprozess hinter sich hat. Es sei denn vielleicht, er oder sie zeigt sich in besonderer Weise „erkenntlich“. Sonst lohnt sich das Investment aus der Sicht der meisten Möchtegern-Daddies und -Mommies nicht. Machen wir uns also nichts vor! Altruismus ist Mangelware in deutschen Tango-Communities.

Aber, um auf die alten Gesichter zurückzukommen: Mit der richtigen Perspektive und Einstellung ist jede Tanda neu und frisch, egal wie oft wir schon mit ein und demselben Tänzer getanzt haben. Aber dennoch, neue Tänzer sollen her! Aus der Mitte der Gesellschaft sollen sie interessiert und, um Tacheles zu reden, im nächsten Schritt rekrutiert werden. Das Bäumchen-wechsel-dich-Spiel soll reibungslos am Laufen gehalten werden. Das Ganze würde an einen Swingerclub erinnern, wäre da nicht dieser Kultcharakter und das vage Gefühl, dass ab und zu etwas ganz Heiliges in der Umarmung passiert, das weit über die profane physische Anziehungskraft hinausgeht.

Politik

Man hört oft, dass die Tango-Community wie ein Spiegel der Gesellschaft sei. Mit dem Begriff der Gesellschaft assoziieren viele schnell ein bestimmtes politisches System. Es laufen interessante Debatten über die Frage, ob Tango kapitalistisch oder kommunistisch sei. Nun, der Mensch bringt sich im Grunde mit allen Facetten und Charaktereigenschaften mit ein, über die er auch vor dem Beitritt verfügte, mit all seinen guten und all seinen schlechten.

So falsch ist das mit dem Spiegel also nicht. Verschiedene Kulturen und teilweise sehr widersprüchliche Mentalitäten treffen im Tango wie in einem Schmelztiegel aufeinander. Als Ausdruck von Leidenschaft, Melancholie und Schmerz ist Tango jedoch keine Erfindung Reicher oder Intellektueller, sondern ein Kind der Armut. Einfache Menschen, die unter existenziellen Problemen und Hoffnungslosigkeit litten, haben ihn entwickelt, kultiviert, ihn weitergegeben und ihn somit auch unseren Breitengraden und unserer Generation geschenkt. Im Umkehrschluss bedeutet dies: wenn wohlhabende Leute ihn praktizieren, ist es im Grunde nichts anderes als kulturelle Aneignung.

Da der Kommunismus als gesellschaftstheoretische Utopie nicht unabhängig vom Kapitalismus gedacht werden kann, spielt der Kapitalismus im Tango schon eine gewisse Rolle. Bekanntlich ist der Mensch ein politisches Wesen, ein zoon politikon. Aus keinem Lebensbereich lässt er seine politische Haltung komplett außen vor. Dazu ist der Mensch kaum imstande. Aber deshalb ist der Tango für sich betrachtet nicht automatisch politisch oder gar kapitalistisch. Vielmehr wurde er als abstrakter Zufluchtsort geschaffen, in der die Welt noch in Ordnung schien und das Leben noch lebenswert. Selbst wer in der Außenwelt wirtschaftlich und sozial ganz unten angekommen war, konnte im Tango Anerkennung finden oder gar ein König sein, wenn er gut genug tanzte. Noch heute kann man sich in den Tangosalons in Buenos Aires Status und Rang verschaffen, wenn man gut tanzt.

Es ist, wie dargestellt, keineswegs eine bestimmte politische Weltanschauung, die die Tango-Community anleitet. Wir wissen nun, wir sind Anarchisten. Aber was sind wir noch? Was ist es, das uns eint?

Milongas? Nein danke.

Tango heißt Leben!

Die meisten aktiven Tangotänzer würden diese These wohl vorbehaltlos und ohne zu zögern unterschreiben. Tango ist zweifelsohne Lebensfreude pur! Im Umkehrschluss bedeutet dies leider aber auch: Tanzt du nicht, bist du tot. Genauer gesagt tot für die Tango-Community im metaphorischen Sinne. Mitmenschen, die mit Tango nix am Hut haben, sind per se nicht auf ihrem Radar. Gleiches gilt für ehemalige Milongabesucher: die gelten quasi als weg vom Fenster. Wie ich zu dieser Aussage komme? – Aus eigener Erfahrung.

Mein letzter Milongabesuch war Anfang Dezember 2023. Dass ich mich auf die Piste geschmissen habe, liegt also mittlerweile drei Monate zurück. Und jaaa, ich lebe noch! :–) Sogar sehr gut und überaus zufrieden.

Milonga-Detox

Es ist keine bewusste Entscheidung gewesen, mir eine Auszeit von der Ronda zu nehmen, auch kein Entzug oder Ähnliches. Im Gegenteil, sonderlich „süchtig“ war ich zuletzt gar nicht mal. Vielmehr überdrüssig. Man kommt, man tanzt, man unterhält sich, man geht, man stellt sich als namenloser Tänzer zur Verfügung und benutzt sein Gegenüber als selbigen. Das ständige Hin- und Her, die Marktgepflogenheiten, Miradas, Cabeceos, die Spielchen, seine Füße quälen und trotzdem dabei freundlich Lächeln…das alles fühlt sich mit der Zeit so an, als befände man sich in einer seltsamen Zeitschleife. Alles ist schon einmal in einer ähnlichen Form dagewesen, belangloser Smalltalk eingeschlossen. Zuletzt hatte ich im Grunde nur noch aus Gewohnheit regelmäßig Milongas besucht. Die Hochgefühle beim Tanzen wurden immer seltener und blieben schließlich immer öfter aus. Nach der letzten Milonga dann hatte ich schlicht keinen Grund mehr, eine weitere zu besuchen, ließ es einfach bleiben und stürzte mich wieder vermehrt in andere Lebensbereiche. Es gab ein wunderbares Leben vor dem Tango – insofern muss es theoretisch ein gutes Leben nach dem Tango geben.

Mehr Zeit für Anderes

Da Weihnachten jedenfalls vor der Tür stand und ich mich auf die Zeit mit meiner Familie freute, fiel mir meine Milonga-Abstinenz nicht schwer. Es mangelte mir noch nie an Kreativität bei der ausgewogenen und sinnvollen Ausgestaltung meiner Freizeit. Vor diesem Hintergrund konzentrierte ich mich auf das, was ich gewinnen würde und nicht auf das, was ich verloren hatte. Verloren war ohnehin nichts. Es ist schließlich keine endgültige Abkehr.

Nur, endlich habe ich seither mehr Zeit für andere Dinge, die mir wichtig sind. Deutlich mehr Raum für Familie und Freunde sowie mehr Zeit, um laufende Herzensprojekte zu verfolgen und entschiedener voran zu bringen. Mehr Zeit für andere Leidenschaften. Als ich anfing Tango zu praktizieren, nahm ich mir vor, mit einem Bein in meinem alten Leben zu bleiben. Dem Tango wollte ich nicht alles opfern. Wieso auch? Was schuldete ich ihm? Ich war eine Neugeborene in dieser Welt. Der Tango sollte sich mir erst einmal als nützlich erweisen, sich bewähren und mein Leben bereichern. Dann wird man sehen. Ich wollte ihn erfahren, aber deshalb nicht alles für ihn stehen und liegen lassen. Ältere Freundschaften wollte ich daher z.B. nicht zu sehr vernachlässigen. Darauf war ich sehr bedacht und bin es noch. Und andere Interessen verfolgte und pflegte ich bewusst weiter, um Sicherheitsnetze zu haben. Und auf meinen Weitblick bin ich heute besonders stolz.

Klar geht das alles auch neben Milongabesuchen, aber die Fahrten, die Kommunikation, das Stylen, Schuhpflege, gedankliche Aufarbeitung, Reflexion usw. nimmt nun einmal unleugbar Energie und Zeit in Anspruch, die an anderen Ecken und Ende dann logischerweise fehlt.

Weitere Beweggründe wurden mir jedoch erst mit zunehmender Distanz zu dieser Welt bewusst.

Monopol

Mich störte schon länger latent die Überhöhung der Milonga als fast schon monopolartige Begegnungsstätte für den Tango Argentino. Um Tango zu schätzen und auszuleben, muss man jedoch genau genommen keine einzige Milonga besuchen. Milongas haben natürlich zwar ihren Zweck, jedoch ist Tango viel mehr als das. Darauf komme ich gleich zu sprechen.

Cliquen-Bildung

In Milongas meiner Gegend gab es Cliquen, darunter meist elitär anmutende Gruppen. Diese waren relativ geschlossen. Fremden Besuchern sowie Anfängern erwiesen sie so gut wie nur selten die Ehre einer Tanda. Dagegen unternommen haben die Gastgeber meines Wissens nichts. Sie wollen dies in der Regel nicht erkennen oder fördern die Cliquenbildung gar oder wissen schlicht nicht, was sie dagegen unternehmen sollen. Für einen lebendigen und toleranten Tango ist das jedenfalls sehr kontraproduktiv.

Platzmangel

Gute Milongas sind überlaufen und auf schlechten zieht es einen nicht so recht auf die Tanzfläche. Kennt Ihr das auch?

Der soziale Aspekt von Milongas ist an sich eine nette Grundidee und man möchte ja den Tango auch gerne mit anderen teilen. Aber das Erfordernis, sich auf engsten Raum zu beschränken, pfercht meine Seele manchmal einfach ein. Es gibt sogar Workshops, bei denen man gezielt lernt, den geringen Raum auszuschöpfen. Manchmal möchte ich mich räumlich einfach so richtig entfalten. Da stoßen Milongas und der dahinterstehende Salonstil generell an ihre Grenzen.

Alternative Energiequellen

Um sich aus der Milonga-Szene zurückzuziehen, muss man über ausreichende andere Energiequellen verfügen, sonst leidet man unweigerlich unter dem Entzug. Bei der überwiegenden Mehrheit ist dies nicht der Fall. Tangotänzer sind nun einmal besonders besessen und dahingehend schlicht loco. Eine Tatsache. Das geht soweit, dass sie sich fast ausschließlich für Tango interessieren. Oft investieren sie ihre gesamte Freizeit in den Tango. Interessanterweise versäumen sie es, sich ab einem bestimmten Punkt dabei auch technisch weiter zu entwickeln und werden bequem. Viel Herumtreiberei. Viel Klüngelei. Viel Lechzen nach Umarmungen und Bestätigung. Wenig Disziplin.

Motiv: Oberflächlichkeit

Während damals bei meinem Einstieg die meisten Kursbesucher im Tangounterricht darauf aus waren, möglichst schnell fit für die Milonga zu werden, bevorzugte ich schon immer mehr Begegnungen mit etwas mehr Tiefgang. Insofern zog ich beispielsweise das Training in Practicás mit einem angenehmen Partner einer Milonga meist vor. Sicher, auch dort herrscht Rondastruktur, aber wenn man den Fluss kurz unterbricht, also mal stehen bleibt, um etwas auszuprobieren oder zu wiederholen, sind die anderen Trainierenden auf der Fläche meist tolerant und überholen einen mal eben. Und sind sie es nicht, sind sie am falschen Ort und wollen aus einer Practicá eine Milonga machen. Einfach in entspannter Atmosphäre ein bisschen experimentieren, ohne dieses überflüssige gekünstelte Getue und Aufblasen. Das genieße ich sehr.

Oft werde ich von Tänzern eingeladen, sie zu Milongas zu begleiten. Ihre Bereitschaft , dort ein oder zwei schöne Tandas mit mir zu verbringen, ist nett gemeint. Und an sich ehren mich solche Anfragen. Aber ich empfinde es als ein viel größeres Kompliment, wenn man(n) mit mir z.B. einen Workshop oder eine Practicá besuchen möchte. Das hat eine andere Qualität. Es bedeutet nämlich, dass derjenige sich eingehender mit mir beschäftigen möchte und die Zeit mit mir als Bereicherung empfindet.

Am Ende des Tages wünscht sich doch jeder echte Wertschätzung und nicht etwa schnellen Instantkaffee To Go. Wann haben wir – als Menschen – eigentlich angefangen, unsere Ansprüche an uns selbst und an unsere Mitmenschen herunterzuschrauben? Wann genau ist das passiert? Und warum? Es ist widersprüchlich: viele erhoffen sich echte Nähe, Freundschaft und Liebe vom Tango, wollen aber nicht stehen bleiben und in die Tiefe gehen. Auf den Aspekt Nähe möchte ich gleich nochmal zu sprechen kommen.

Blendung

Aufgrund eines Vakuums im eigenen Leben verklären viele Tänzer die Milonga. Oft wird die lokale Community zu einer Art Ersatzfamilie oder gar Therapiezentrum für die angeschlagene Seele. Die Milonga soll gewissermaßen richten, wo zuvor im Leben – also beruflich oder privat – etwas schiefgelaufen ist. Aber die Rechnung geht nicht auf. Genau genommen geht sie nie auf. Das Leben besteht nicht nur aus Tanz, und Tango heilt auch keine Wunden, sondern betäubt sie allenfalls temporär. Generell plädiere ich daher dafür, dem Tango nicht übermäßig viel aufzubürden, sonst droht spätenstens im nächsten Schritt Realitätsverlust.

Dieser Realitätsverlust ist jedoch nicht selten so gewollt und wird durch gezielte Einflussnahme von zentralen Figuren der Community gefördert. Insofern sind die Geblendeten nicht allein Schuld an ihrer Blindheit. Um Kundenbindung zu betreiben, wird von Milongaveranstaltern, welche oft gleichzeitig auch Lehrer sind, der Zusammenhalt der Community künstlich herbeigeredet. Eine Mär. Zum Beispiel war schon offen die Rede von „Kreisen“, also „äußere Kreise“ und „innerer Kreis“. Dies suggeriert, dass der Tanzschüler sich zum inneren Kreis hinarbeiten kann, wenn er sich genug anstrengt und sich in sonstiger Weise als würdig erweist. Und mit Anstrengung ist nicht schneller Lernfortschritt gemeint. Vielmehr soll der Tanzschüler dem Unternehmen (oder dem Lehrer ganz privat) von Nutzen sein.

Wer jedenfalls Kreise oder besser gesagt Studio-Communities absteckt, definiert damit automatisch ein Wir und die Anderen. Wozu soll das bitteschön gut sein? Ich finde eine liberale Tangoszene, in der alle mit offenen Armen willkommen geheißen werden, viel erstrebenswerter als Exklusivität und Pseudofamilien. Von diesem ganzen Illuminati-Quatsch sollte dringend Abstand genommen werden.

Der propagierte „Zusammenhalt“ ist eine Illusion, der negative Dinge wie Exklusion und Konkurrenz schürt und bereits deshalb schon zum Scheitern verurteilt ist, weil sich die meisten Tänzer de facto kaum für ihre Mitmenschen interessieren und wenn doch, dann nur flüchtig, in der Hoffnung seinen Kaffee am nächsten Morgen nicht wie sonst alleine trinken zu müssen. Womit sich der Kreis schließt und wir wieder beim Instantkaffe wären… :–D

Kinderspielplatz

Die Gespräche auf Milongas beschränken sich, wie oben bereits geschildert, oft auf oberflächlichen Smalltalk. Der Nächste wartet schon und seine Umarmung fühlt sich auch nicht schlechter an die des Vorgängers. Begegnungen werden oft nicht als etwas Besonderes identifiziert und geschätzt. Jeder gilt als ersetzbar. Die Leute meinen es in ihrer kurzen Angebundenheit und Oberflächlichkeit aber nicht unbedingt böse. Wie Kinder im Sandkasten sind viele von ihnen einfach nur ignorant, stark selbstbezogen und vergnügungssüchtig. Verlässt ein Kind, mit dem man eben noch rege gespielt hat, den Spielplatz, ist es aus den Augen und aus dem Sinn. Es ist schlicht nicht mehr verfügbar für das Spiel und insofern nicht mehr interessant. Kaum jemand interessiert, was es sonst so im Leben treibt.

Aktuell bemerke ich beispielsweise stark, dass sich viele Tangobekanntschaften desinteressiert abwenden, seitdem ich mich nicht mehr auf Milongas blicken lasse und nicht für die üblichen Spielereien verfügbar bin. Hätte ich kein solides soziales und familiäres Netz, von dem ich mich behütet und getragen fühle, wäre das ein echtes Problem. Aber, wie mein erfahrener Lehrer mir einmal zutreffend erklärte, stellt Tango für viele Tänzer die alleinige Grundlage ihres Sozialebens dar. Traurig, aber wahr, wie ich heute weiß.

Bei den meisten Tänzern gehen die Rollläden runter, sobald ein Gespräch länger als 10 Sekunden auf andere Lebensbereiche gelenkt wird. Und von den unzähligen anderen Bereichen und Aspekten des menschlichen Lebens wollen sie gar nicht wissen. Als befänden sie sich in einem tiefen Schlaf und würde einen wunderbaren Traum träumen, aus dem sie nicht geweckt werden wollen.

Erzähle ich bei Begegnungen mit anderen Tänzern davon, was ich außer Tango tue, mich umtreibt oder einnimmt, was ohnehin nur auf Nachfrage tue, lenken die meisten von ihnen den Dialog kurze Zeit später wieder zurück in ihre Wohlfühlzone: Tango. Klar macht es Spaß über ihn gemeinsam zu philosophieren, aber es gibt auch viele andere Themen, Ereignisse und Lebensbereiche, über die sich zwei Menschen austauschen können.

Viele reagieren dann leicht irritiert, wenn ich dann mal auf das Pferd nicht aufspringen möchte. Ich mag es nicht, auf Tango reduziert zu werden und genieße daher jedes Gespräch mit einem Tangotänzer, das sich um alles Mögliche dreht – nur nicht um Tango. Vereinzelt, jedoch eher selten, treffe ich Leute, die das ähnlich sehen wie ich. Sie sind positiv überrascht und freuen sich, wenn sie an jemanden geraten, bei dem sie von sich und ihrem Leben ein paar Takte frei erzählen können und ihnen vorurteilsfrei zugehört wird.

Realitätsverlust

Der Tango verführt auch leider sehr leicht. Man verliert sich sehr schnell. Plötzlich scheint alles möglich: Abgehalfterte und verlassene Frauen, die den Zenith ihrer Attraktivität lange hinter sich haben, sonst im Alltag niemand besonders beachtet oder als Sex- oder Lebenspartnerin in Erwägung gezogen hätte, fühlen sich plötzlich wieder jung und begehrt, wenn sie im geschlitzten Bleistiftrock und hübschen Sandaletten an ihren sehnigen Füßen, halbherzig geführte Voleos halbherzig ausführen, ohne dass dies auch nur ansatzweise erkennbarer Ausdruck ihrer eigenen Persönlichkeit oder echter Lebensfreude wäre. Aber auch beruflich erfolglose Männer, die teilweise weder eine Wohnung noch ansatzweise einen Plan für ihre Zukunft haben, werfen sich für die Milonga in Schale, baden geradezu in Eau de Toilette und bilden sich ein, sie genössen vielleicht doch einen gesellschaftlichen Status, wenn ihnen aufgrund des häufig vorherrschenden Damenüberschusses die Miradas nur so zufliegen und der Gastgeber ihnen wohlwollend zur Begrüßung auf die Schulter klopft. Vielleicht bietet dieser ihm ja mal einen Job an, als Tango-DJ oder Lehrer vielleicht. Die Leute fühlen sich dadurch gewertschätzt, aber tief im Inneren wissen sie, dass niemand sie wirklich sieht und zwar nicht nur weil die Anderen nicht hinsehen wollen, sondern auch weil sie nicht in Gegenleistung treten wollen, indem sie sich mit ihrem wahren Ich zu erkennen geben.

Wenn man sich das alles vor Augen führt, ist es nur verständlich, dass solche Phantasten sehr auf ihre imaginäre Arena namens Milonga bedacht sind und sich nicht einen Schritt von ihr entfernen möchten, nicht einmal theoretisch im reinen Dialog. Denn draußen in der realen Welt und dortigen Maßstäben, anhand derer man bemessen und bewertet wird, wären sie wieder mit ihren Defiziten, Unvermögen und Versagen konfrontiert und wären gezwungen, ihre Probleme anzupacken. Dazu haben die meisten nicht den Mumm und die Energie. Lieber bleiben sie dann doch Könige und Königinnen ihrer kleinen Scheinwelt und tanzen… Es ist wie in den Hip-Hop-Song von Stromae „Alors en Danse“ aus dem Jahr 2009. Da lautet eine Textzeile: Alors on sort pour oublier tous les problèmes. Alors on danse“ (übers.: „Also gehen wir raus, um alle Probleme zu vergessen. Dann tanzen wir“)

Für viele ist die Milonga leider nur bloße Betäubung und Selbstbetrug. Dabei könnte sie ein wirklich schöner Ort sein, an dem einfach nur der Tango und das Leben gefeiert wird. In anderen Ländern wie zum Beispiel in Spanien ist das so. Auf Milongas, die ich 2022 in Barcelona besucht, waren viele Tänzer offen und authentisch, sie waren wirklich interessiert, woher man kommt, öffneten sich, zeigten ihre verletzliche Seite und erzählten auch frei von sich. Eine meiner schönsten Tandas überhaupt hatte ich mit einem älteren Herren, der beim Tanzen nur so vor Lebensfreude strotzte und mir zum Abschied ein Küsschen auf die Wange gab. Eine andere Mentalität eben. In Deutschland sind viele Menschen leider sozial gehemmt und mischen im Tango mit, weil er irgendwie, sie wissen nicht genau wie, mit Begriffen wie Sinnlichkeit, Leidenschaft und Temperament assoziiert ist. Sie imitieren die Latinos und Südländer, sowohl im Verhalten und in puncto Mode, anstatt gemeinsam einen authentischen deutschen Tango zu kreieren und zu kultivieren. Das Verhalten mancher Tänzer hierzulande ist einfach nur zum Fremdschämen.

Kaum Individualität in der Ronda

Und wenn es dann auf der Tanzfläche zur Sache geht, rocken nur die wenigsten die Ronda mit echter Leidenschaft und Temperament. Meiner Mutter zeigte ich einmal einen kurzen Videoausschnitt aus einem Tango-Marathon bei Kassel. Die Location war prachtvoll und das Tanzniveau vergleichsweise gehoben. Meine Mutter, die zwar viele Tangos gehört und gesehen hatte, aber selbst nie getanzt hat, bemerkte nur verwundert: „Schöner Saal! Also, die Leute sind sehr elegant gekleidet, aber für mich tanzen irgendwie alle das Gleiche.“

Ich war zunächst buff wegen dieser Bemerkung, aber meine Mutter hatte völlig Recht und das lag nicht daran, sie vom Tangotanzen keine Ahnung hatte. Mir selbst fehlte zu diesem Zeitpunkt einfach nur die nötige Außenperspektive, um das zu hinterfragen und zu erkennen. Die Figuren und die Art wie die Tänzer sie ausführten, glichen sich stark. Ständig dieselben Muster. Und nicht nur auf dieser Veranstaltung. Sondern überall ist das so. Kaum jemand wagt etwas Ungewöhnliches und das nicht nur, um Verletzungen zu verhüten. Man kann auch einen individuellen Stil entwickeln, ohne ständig gefährliche Voleos zu schlagen, aber die meisten sind Imitatoren ihrer Lehrer und diese ihrer Lehrer zuvor. Eine endlose Kette der Einfallslosigkeit. Kaum Persönlichkeit und Individualität erkennbar. Und das Schlimmste: nur den Wenigsten siehst man beim Tanzen echte Freude an. Allenfalls Erleichterung, jemanden für die Tanda abgekommen zu haben, mit dem man sich präsentiert in der Hoffnung, irgendwann mit jemandem zu tanzen, den man wirklich will. Und das Ego hat neben dem Instantkaffee vielleicht noch einen Schub Bestätigung rausschlagen können. Hauptsache betanzt, egal wie gut oder wie schlecht oder von wem.

Dabei ist die Möglichkeit an statthaften Figuren, Kombinationen, Effekten, Adornos etc. mathematisch sehr vielfältig. Es ist auch nicht verboten, etwas Neues zu kreieren, wenn es zur Musik und zur Situation passt und den Partner nicht stört. Ich mache das oft, weil ich neben Tango auch elf weitere Tänze im Gepäck habe, aus denen ich mich manchmal bediene. Manchmal geht es auch daneben und ich bringe meinen Tanzpartner damit zu lachen…und dann wir lachen beide. Was gibt es Schöneres!

Ganz Mensch

Um nicht unter die Räder zu kommen, habe ich im Laufe meiner Entwicklung im Tango gelernt, mich lieber an Tänzer zu halten, die neben Tango auch andere Interessen und Talente haben, von denen sie erzählen möchten. Ich genieße es immer sehr, den Menschen hinter dem Tänzer kennenzulernen, selbst oder gerade wenn er Ecken und Kanten oder einen schwierigen Weg zu meistern hat. Es inspiriert mich für mein eigenes Leben und damit auch indirekt für die Charakteristik meines Tanzes.

Wenn man mit einem anderen Menschen Tango tanzt, tanzt man nämlich nicht nur mit dem Ergebnis seiner Tangokurse, Übungsstunden oder Workshops, sondern im Idealfall mit seinem ganzen Wesen und seinem hinter ihm liegenden Weg. Jeder Mensch verfügt über eine einzigartige Biographie und Persönlichkeit, deren Gesamtheit ihn kausal zu einem bestimmten Zeitpunkt an diesen konkreten Ort geführt hat. Man muss sich natürlich nicht über die gesamte Lebensgeschichte austauschen, nur weil man miteinander tanzt; auch ich möchte nicht mein Ohr abgekaut bekommen, wenn gerade ein schönes Lied läuft.

Aber wenn man die Heiligkeit dieser Begegnung nicht erkennt und anerkennt, per se null Interesse an dem Leben und der Persönlichkeit seines Gegenübers aufbringen möchte, jeden tiefergehenden Austausch mit ihm blockiert und diesen obendrein praktisch zum anonymen Tanzgerät degradiert, ist man zum Einen in höchstem Maße respektlos und zum Anderen erfährt man nie das gesamte Potential der Begegnung. Das erlebe und beobachte ich jedoch leider oft.

So nah und doch so fern

Man muss sich das vor Augen führen: Die Paare auf der Milonga tanzen intim umschlungen miteinander, praktisch Hand in Hand, Wange an Wange und Brust an Brust zu Liedtexten über tiefe Gefühle, über Schmerz, Einsamkeit, Liebe und Romantik. Und gleichzeitig sind sie im Herzen kalt. Das ist tragisch, paradox und irgendwie auch pervers.

Einfach mal mit Empathie beobachten, fragen wie es dem anderen geht und kurz zuhören. Und ein ehrliches Kompliment machen, Danke sagen und auch dem Tanzpartner mal einen Kaffee anbieten, bewirkt in vielen Fällen Wunder. Ein glücklicher Tänzer ist nämlich ein guter Tänzer. Win-win.

Keine Selbstverständlichkeit

Ich schreibe grundsätzlich über nichts, wovon ich nichts verstehe. Unzählige Milongas habe ich inzwischen besucht. Genau genommen habe ich meinen Tango hauptsächlich auf Milongas gelernt, da mir wegen dem häufig vorherrschenden Erfordernis der festen Tanzpartnerschaft der Zugang zum Unterricht oft verwehrt blieb. Gelernt habe ich in der Ronda unter großen Schmerzen, musste vielen Clownsspielchen standhalten, nur um ab und zu mal an einen kompetenten und wohlwollenden Tänzer zu geraten. Insofern steht es mir frei, wenn ich angesichts des Bestehens solcher Angebote keinen Kniefall mache. Früher habe ich Energie vergeudet und darüber nachgedacht, ob ich auf dieser oder jener Milonga willkommen bin. Heute ist es umgekehrt, d.h. ich überlege mir vorher, ob die Milonga mir genug anbieten kann, dass ich ihr meine Zeit, mein Geld und meine Energie widme. Von diesem Maß an Unabhängigkeit und Erfüllung habe ich in meinen Anfängen nicht zu träumen gewagt…

Ja, mir ist sehr wohl bewusst, dass das freie Praktizieren von Tango nicht selbstverständlich ist. Durch Pandemien, Krisen oder Kriege könnte dieser Luxus jederzeit unverhofft wieder verschwinden, aber das löst in mir seltsamerweise keine großen Ängste oder Verknappungspanik aus. Während des Lockdowns habe ich den Worstcase bereits schmerzlich erlebt und auch überlebt. Und Fakt ist: Tango findet immer seinen Weg. Notfalls auch in einem Betonbunker tief unter der Erde. Solange ihn ein paar Menschen beherrschen und mit Herz und klarem Verstand praktizieren wollen, mache ich mir um seinen Fortbestand null Sorgen.

Alternative

Nur weil ich also zeitweilig Milongas schmähe, schmähe ich den Tango keineswegs generell. Im Gegenteil. Nach wie vor spielt er eine große Rolle in meinem Denken und Fühlen. Ich höre etwa weiterhin Tangomusik, lese über Tangokultur und -geschichte, grüble über Tango, übe vereinzelt für mich allein auch mal ein bisschen Tangotechnik und arbeite meine Beobachtungen und Erlebnisse in der Tangowelt auf, so wie auch jetzt gerade, während ich schreibe. Letztes Wochenende etwa hatte ich außerdem die Gelegenheit, auf einer wunderbaren Tanzveranstaltung einen Tango vor anspruchsvollem Publikum auf einer kleinen Bühne zu performen. Ein authentischer spontaner Tango, so wie gerade entsteht. Das war mal etwas anderes für mich, etwas Neues.

Im Grunde ist doch Tango überall dort, wo zwei Menschen in der Umarmung miteinander gehen. Ebenso gut kann man ihn spontan auf der Straße tanzen. Oder in angenehmer Gesellschaft im warmen Meer. Letzteres ist ein besonders herausforderndes Erlebnis, wenngleich der Wasserwiderstand jeden Voleo stark ausbremst. Das soll keine Empfehlung sein. Nur Beispiele. Nicht, dass mir hier noch jemand in den Wellen ertrinkt. Besser im Pool ausprobieren. :–) Der langen Rede ein kurzer Sinn: Tango ist mehr als nur Milonga. Tango ist reich!

Fazit

Wie lange meine Milonga-Pause nun noch andauern soll, habe ich nicht festgelegt. Da höre ich auf mein Bauchgefühl. Vielleicht will ich morgen spontan eine Milonga besuchen, vielleicht nächsten Monat, vielleicht auch nie wieder. Zugegeben letzter Fall ist unwahrscheinlich. Meine „Kur“ bekommt mir bisher jedenfalls überraschend gut. Noch vermisse ich die Ronda also nicht, aber wenn es soweit ist, sollen möglichst viele meiner Begegnungen echt und tief sein.

Mich würde natürlich sehr interessieren, ob Du auch schon einmal freiwillig eine längere Milonga-Pause eingelegt hast? Wenn ja, was waren Deine Gründe und wie ist es Dir dabei ergangen? Hattest Du Entzugserscheinungen? Bist Du schließlich in die Ronda zurückgekehrt? Wenn ja, was genau hat Dich zurückbeordert? Über Deinen Kommentar würde ich mich freuen!

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