Faszination Tango-Community – Teil 2

Wer hat hier eigentlich das Sagen?

Kurz gesagt: niemand und gleichzeitig alle.

Stellt man auf die Organisation von Tango-Communitys ab, so bemerkt man als aufmerksamer und objektiver Beobachter unschwer, dass sie nicht zentral regiert werden. Im Grunde werden sie überhaupt nicht regiert. Zumindest bisher nicht. Insofern sind wir Tangomenschen herrschaftslos und frei. Das bedeutet nicht, dass wir keine Werte oder Regeln haben. Aber dazu später mehr. Betrachten wir erst einmal weiter unsere Natur. Im Grunde regeln wir alles untereinander. Ich sage es ja nur ungern, aber das macht uns zu waschechten Anarchisten!

Gleichberechtigung

Da der Anarchismus jegliche Hierarchie negiert, bedeutet das für uns, dass jeder, der im Tango aktiv ist – ganz gleich ob beruflich oder hobbymäßig – gleichberechtigt ist. Dies umfasst freilich auch das gleiche Recht, den Kurs der Community im gegenseitigen Austausch mitzubestimmen. Das Mitbestimmungsrecht ist aber nicht zu verwechseln mit einem etwaigen Wahlrecht, denn wir halten faktisch keine Wahlen ab. Insofern entfällt eine wesentliche Säule der Demokratie. Wir sind keine Demokraten, wenn es um die Frage geht, wie wir den Tango zu kultivieren. Wir kultivieren ihn einfach und die Persönlichkeit und der Wille jedes Einzelnen fließt in die Ausübung des Tango mitein und prägt diesen mit. Wie intensiv man sich einbringt, ist dabei jedem selbst überlassen. Manche Ideen erfahren Zustimmung durch andere Mitglieder – und manche wiederum finden kaum Beachtung.

An sich hat dieses System bisher prima funktioniert und würde auch weiterhin funktionieren, gäbe es da nicht gewisse Bessermachenwoller. Eine Gefahr dieser Gleichberechtigung besteht nämlich mitunter in Bestrebungen, die Interessen der Praktizierenden vertreten zu wollen, also gegenüber der Rahmengesellschaft, relevanten Institutionen und auch dem Staat. Früher erschien mir die Idee, dass Tangoprofis Berufsverbände gründen, vernünftig und sinnvoll. Zünfte, Kammern und Co. haben schließlich eine lange Tradition in Deutschland. An sich mag diese Idee auch gut gemeint sein. Aber gerade im Tango sehe ich das mittlerweile doch eher kritisch. Juristisch mag eine Interessensvertretung die Rechtspositionen der Profis stärken. Aber im weiteren Verlauf könnte daraus problemlos ein Machtanspruch zugunsten bestimmter Interessensvertreter und zugleich zulasten der kulturellen Vielfalt im Tango entspringen, wobei dieser genau genommen zu keinem Zeitpunkt durch einvernehmlichen Konsens der Community an diese übertragen wurde. Dies birgt das Risiko, dass von ihnen anmaßend und illegitim definiert und geregelt werden könnte, was genau Tango in Musik und Tanz ist und was nicht. Dies würde dem Tango ein strammes Korsett anlegen, was gerade aufgrund der Besonderheit dieses Kulturgutes nicht nur obsolet wäre, sondern auch kontraproduktiv. Und ein solches Streben könnte man dabei – theoretisch – problemlos legitim anmuten lassen, zum Beispiel durch das besondere Schutzbedürfnis des Kulturgutes oder dem Bedürfnis der Profis, von ihrer Kunst leben zu können.

Jeder Mensch wünscht sich ein sicheres Dach über dem Kopf und das tägliche Essen auf dem Teller. Aber realistisch betrachtet, ist mir persönlich kein Tangoprofi untergekommen, der vom Tango wirklich komfortabel und sorgenfrei lebt. Und diejenigen, die damit über die Runden kommen, sind ständig auf Achse und in Sorge. Denn wie alle anderen Wirtschaftszweige, richtet sich auch die Kulturbranche nach den geltenden Naturgesetzen wie etwa Angebot und Nachfrage. Tango bedient im Grunde nur eine winzige Nische. Man verpflichtet sich ihm also nicht, sofern man grundsätzlich bei Verstand ist, aus Profitstreben, sondern aus tiefer Leidenschaft. Eine brotlose Kunst ist Tango keineswegs, allerdings sind die Lebenshaltungskosten in Deutschland sowie in weiten Teilen Europas alles andere als niedrig. Reicht also etwa das Musizieren im Tangoorchester nicht aus, um davon seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, sollte man dies womöglich besser nur als Hobby betreiben oder allenfalls als Nebenjob. Zumindest ist es kein Fehler, über einen Plan B zu verfügen.

Tangoprofis streben an, vom Tango leben zu wollen. Ich sehe daher nicht, was genau ein Berufsverband konkret daran ändern könnte. Ein solcher vermag den Tango nicht aus seiner Nische zu holen. Man kann einer Kulturgesellschaft nicht künstlich aufs Augen drücken, was in weiten Teilen nicht zu ihrer Mentalität passt. Selbst mit viel Geld und Rückendeckung ist dies schwer möglich. Zurzeit versucht man mit viel medialer Agressivität, hierzulande den amerikanischen Football an den deutschen Michel zu bringen. Vorangetrieben wird das durch einflussreiche Medienunternehmen, die sehr wahrscheinlich mit kompetenten Thinktanks und Medienstrategen kooperieren. Vor diesem Hintergrund drängt sich die Frage auf: Welche auch nur annähernd vergleichbare Maschinerie und Finanzkraft können da bitteschön die Verbandsvorläufer konkret vorweisen, um den Tango in Deutschland populärer zu machen? Um ihn zu bewerben und attraktiv zu machen, benötigt man einen solchen auch nicht. Es sind nach meiner Beoachtung die einfachen Hobbytänzer, die Außenstehende in den Tango holen.

Wohin sich solche Verbandsvorläufer genau entwickeln, bleibt abzuwarten. Ich bin für gute Argumente offe, sehe das jedoch bisweilen kritisch. Fest steht jedoch, dass echte Kultur aus der Mitte der Gesellschaft und somit horizontal entsteht und lebt und nicht etwa vertikal also von oben herab gewährt oder gelenkt wird. Anderenfalls würde sich der Tango längerfristig zu einer Karikatur entwickeln, die von einigen Wenigen nach ihrem persönlichen Geschmack anmaßend und künstlich geformt würde.

Sons and Daughters of Anarchy

Begriffe wie Anarchie bzw. Anarchismus sind hierzulande negativ konnotiert. Sie werden mit Chaos und Gewalt in Verbindung gebracht. Viele denken da an Graffitischmierereien, brennende Molotowcocktails, die durch Glasscheiben fliegen, Vandalismus usw. Aber mit der dahinterstehenden politischen Philosophie hat das alles nichts zutun.

Also immer schön cool bleiben… Hier ist lediglich die Rede von Tango. Tango ist eine kleine Traumwelt, also eine abstrakte Dimension, die räumlich auf dem jeweiligen Staatsgebiet stattfindet, in welcher er praktiziert wird. Begegnen wir uns also in der Bundesrepublik Deutschland, um gemeinsam Tangomusik zu spielen oder Tango zu tanzen, so findet alles im Geltungsbereich des Grundgesetzes statt, d.h. Gewaltenteilung, die deutschen Gesetzgebung etc. gelten uneingeschränkt fort und machen vor dem Tango und anderen kulturellen Interessensgemeinschaften natürlich keinen Halt. Alles, was wir in dieser Dimension so anstellen, muss bzw. sollte idealerweise im Einklang mit der übergeordneten Rechtsordnung stehen. Und nach meiner Beobachtung tut es das in den meisten Fällen auch.

Solange wir also mit der Rechtsordnung nicht kollidieren, sind wir frei. Während des Covid19-Lockdowns und diesem ganzen 3-G und 2-G-Nonsens wurden wir Tangopraktizierende mit dieser Tatsache besonders hart und unvermittelt konfrontiert. Ich erinnere mich noch schmerzlich daran, wie ich in der Anfangsphase der Lockerungen innerhalb gekennzeichneter Kästchen auf dem Parkett getanzt habe. Ein paar Quadratmeter waren es bloß. Besser als nichts, aber Freiheit war das auch nicht gerade. Danach konnte sich die Szene nach und nach erholen und wieder entspannt entfalten, wobei einige Schulen dies wirtschaftlich nicht verschmerzen konnten.

Autonomie

Jede Community regelt ihre Angelegenheiten und Ziele also selbst. Vom Engagement ihrer lokalen Mitglieder hängt übrigens auch ab, wie lebendig sie floriert. Darauf hat jedes Mitlglied Einfluss – Nobodys genauso wie VIPs. Einzelnen Mitgliedern mag die Herrschaftlosigkeit, welche dem Geist des Tango inhärent ist, nicht so gut schmecken und möchten gerne wichtiger sein als andere. Dann gibt es wiederum solche, die sich freiwillig unterwerfen oder anderen anhänglich machen, was meiner Beobachtung nach oft nur in der kalkulierten Hoffnung geschieht, durch die vermeintliche Führungspersonen mit in den Tangoolymp erhoben zu werden. Zum Fremdschämen….

Mir wurden, vor allem in der Anfangszeit, immer mal wieder graue Eminenzen vorgestellt, die angeblich die deutsche Community mitgegründet haben sollen und insofern superwichtig seien. Da ich derartige Behauptungen im Verlaufe solcher Unterhaltungen, d.h. auf die Schnelle, nicht überprüfen konnte und mir ihr konkreter Beitrag für meine bisherige Entwicklung im Tango weder ersichtlich noch spürbar war, verzichtete ich auf den gewünschten demütigen Kniefall. Was ich nämlich trotz meiner damaligen Orientierungsprobleme in der Tangowelt zu dieser Zeit zum Glück rasch erkannte, war, dass man mit solchen signalhaften Hinweisen und das gar nicht mal sooo elegant-subtil eine Art Autorität und Machtgefälle postulierte, die ein entspanntes und respektvolles Kennenlernen auf Augenhöhe per se unmöglich machte. Um solche Konditionen und Strukturen machte ich schon immer einen großen Bogen und das würde ich auch jedem würdevollen Tänzer und empfehlen.

Gleichberechtigung

Sich über- und unterzuordnen, liegt freilich in der menschlichen Natur. Aber im Tango gibt es faktisch keine Könige, keinen Hohen Tangorat, keine Armee und keine Richter. Allerdings schlagen hier und da ein paar anmaßende Personalien auf, die gerne den Boss spielen wollen. Manchmal auch mit Entourage, um einen Herrschaftsanspruch zu suggerieren und zu untermauern. Im Grunde stellen sich solche Leute abseits der eigentlichen Community, denn sie kochen ihr ganz eigenes Süppchen, das dem freiheitlichen Wesen des Tango nicht gut bekommt.

Wer mich kennt, weiß, dass mir die Szenarien nicht so schnell ausgehen: Wenn zwei ganz gewöhnliche Hobbytänzer auf der Straße spontan, mit Herzenswärme und innerer Verbundenheit einen Tango tanzen, ist ihre bescheidene Aktion, auch wenn viele das belächeln würden, genauso(!) bedeutsam für die Bewahrung der lebendigen Tangokultur wie die Organisatoren großer internationaler Tangofestivals oder die Meisterpaare, die dort aufschlagen um sich im Blitzlicht zu sonnen. Nichts gegen unsere Maestros und Maestras. Sie beflügeln unsere Phantasien und zeigen ungeahnte Möglichkeiten auf. Selbstverständlich habe ich auch meine persönlichen Tango-Idole, aber die habe ich mir aufgrund von Besonderheiten, die mich faszinieren selbst auserkoren und treten mir außerdem auch umgekehrt mit Respekt gegenüber. Was die oben genannten Hobbytänzer auf der Straße angeht, ist ihre Darbietung vielleicht nicht so spektakulär, aber dafür authentisch, da ohne jegliches Gewinnstreben oder Anspruchsdenken, sondern aus einem tiefen Bedürfnis heraus. Wer die Gleichberechtigung aller Community-Mitglieder ernsthaft anzweifelt, hat den argentinischen Tango entweder nicht begriffen oder nicht begreifen wollen.

Community im steten Wandel

Einen fest abgesteckten Personenkreis bilden wir definitiv nicht. Wir sind kein Geheimbund. Und auch kein Dorf, auch wenn es sich manchmal so anfühlt als würde man auf Milongas und Marathons Nachbarn begegnen. Mitglieder verschwinden. Neue Mitglieder kommen hinzu. Und hier und da ein bekanntes Gesicht. Die Tango-Community ist keineswegs statisch, was ihre Mitglieder anbelangt, auch wenn wir uns manchmal, wohlgemerkt manchmal(!), gegenseitig etwas anöden. Wir schmeißen uns nicht nur wegen der bekannten Gesichter auf die Piste. Nicht nur um alte Freunde zu treffen. Nein. Zwar bieten sie Geborgenheit und damit das gewisse wohlige Wohnzimmerfeeling. Aber den meisten von uns sind neue Gesichter sehr willkommen.

Nachschub Nachwuchs

Aber woher die Gier nach neuen Tänzern? Nun, spätestens nach ein paar Jahren Erfahrung hat man alle interessanten Mittänzer gewissermaßen durch, um nicht zu sagen auch ein wenig satt. Es passiert nichts Überraschendes mehr. Mit der Zeit kennt man sich ganz gut und weiß wie der Andere führt oder sich führen lässt. Zumindest glaubt man, es zu wissen. Man sehnt sich nach dem Unbekannten und Unberechenbaren, so wie das Abenteuer einst ganz am Anfang seinen Lauf nahm. Dabei möchten sich die meisten aus reiner Bequemlichkeit weder mit der eigenen Geisteshaltung auseinandersetzen noch möchte jede zweite Woche verreisen und sich in komplett andere Tango-Kreise zu begeben, nur um neue Tänzer zu erleben. Da ist es einfacher, in die eigene Community neue Mitglieder zu locken und zu passablen Tänzern heranzuzüchten. Pragmatismus zeichnet uns aus. Der Wille ist da. Aber ironischerweise möchte sich kaum jemand wirklich die Mühe machen, einen Anfänger unter die Fittiche zu nehmen und ihn monate- oder gar jahrelang zu fördern, bis er gut genug tanzt. Erstrecht nicht, wenn man selbst einen steinigen Lernprozess hinter sich hat. Es sei denn vielleicht, er oder sie zeigt sich in besonderer Weise „erkenntlich“. Sonst lohnt sich das Investment aus der Sicht der meisten Möchtegern-Daddies und -Mommies nicht. Machen wir uns also nichts vor! Altruismus ist Mangelware in deutschen Tango-Communities.

Aber, um auf die alten Gesichter zurückzukommen: Mit der richtigen Perspektive und Einstellung ist jede Tanda neu und frisch, egal wie oft wir schon mit ein und demselben Tänzer getanzt haben. Aber dennoch, neue Tänzer sollen her! Aus der Mitte der Gesellschaft sollen sie interessiert und, um Tacheles zu reden, im nächsten Schritt rekrutiert werden. Das Bäumchen-wechsel-dich-Spiel soll reibungslos am Laufen gehalten werden. Das Ganze würde an einen Swingerclub erinnern, wäre da nicht dieser Kultcharakter und das vage Gefühl, dass ab und zu etwas ganz Heiliges in der Umarmung passiert, das weit über die profane physische Anziehungskraft hinausgeht.

Politik

Man hört oft, dass die Tango-Community wie ein Spiegel der Gesellschaft sei. Mit dem Begriff der Gesellschaft assoziieren viele schnell ein bestimmtes politisches System. Es laufen interessante Debatten über die Frage, ob Tango kapitalistisch oder kommunistisch sei. Nun, der Mensch bringt sich im Grunde mit allen Facetten und Charaktereigenschaften mit ein, über die er auch vor dem Beitritt verfügte, mit all seinen guten und all seinen schlechten.

So falsch ist das mit dem Spiegel also nicht. Verschiedene Kulturen und teilweise sehr widersprüchliche Mentalitäten treffen im Tango wie in einem Schmelztiegel aufeinander. Als Ausdruck von Leidenschaft, Melancholie und Schmerz ist Tango jedoch keine Erfindung Reicher oder Intellektueller, sondern ein Kind der Armut. Einfache Menschen, die unter existenziellen Problemen und Hoffnungslosigkeit litten, haben ihn entwickelt, kultiviert, ihn weitergegeben und ihn somit auch unseren Breitengraden und unserer Generation geschenkt. Im Umkehrschluss bedeutet dies: wenn wohlhabende Leute ihn praktizieren, ist es im Grunde nichts anderes als kulturelle Aneignung.

Da der Kommunismus als gesellschaftstheoretische Utopie nicht unabhängig vom Kapitalismus gedacht werden kann, spielt der Kapitalismus im Tango schon eine gewisse Rolle. Bekanntlich ist der Mensch ein politisches Wesen, ein zoon politikon. Aus keinem Lebensbereich lässt er seine politische Haltung komplett außen vor. Dazu ist der Mensch kaum imstande. Aber deshalb ist der Tango für sich betrachtet nicht automatisch politisch oder gar kapitalistisch. Vielmehr wurde er als abstrakter Zufluchtsort geschaffen, in der die Welt noch in Ordnung schien und das Leben noch lebenswert. Selbst wer in der Außenwelt wirtschaftlich und sozial ganz unten angekommen war, konnte im Tango Anerkennung finden oder gar ein König sein, wenn er gut genug tanzte. Noch heute kann man sich in den Tangosalons in Buenos Aires Status und Rang verschaffen, wenn man gut tanzt.

Es ist, wie dargestellt, keineswegs eine bestimmte politische Weltanschauung, die die Tango-Community anleitet. Wir wissen nun, wir sind Anarchisten. Aber was sind wir noch? Was ist es, das uns eint?

Faszination Tango-Community – Teil 1

Stellt Dir vor, es ist Milonga und keiner geht hin. Keiner außer Dir und eine weitere Person, wie etwa Deine Begleitung oder vielleicht jemand Fremdes, den Du angenehm findest und mit dem Du grundsätzlich tanzen möchtest. Das Parkett glänzt, die Beleuchtung ist stimmungsvoll, der DJ sitzt artig am Pult und die Musik spielt. Alles ist perfekt. Nur die anderen Gäste fehlen. Würdest Du unter dieser Prämisse in der für Dich gewohnten Dauer dieser Milonga beiwohnen und auch die Anzahl von Tandas tanzen, die Deinem Durchschnitt entsprechen?

Nein? Warum nicht? Wie viele verschiedene Tanzpartner benötigst Du denn, damit die Milonga für Dich befriedigend ist? Oder anders gefragt: Ist der Genuss für Dich gemindert, wenn Du keine Aussicht darauf hast, schon bald in die Arme des nächsten Tanzpartners zu versinken? Wieviele Tänzer braucht man denn generell, um Tango zu tanzen? Und wieviele konkret, damit von einem sog. Social Tango die Rede sein kann? Wie viele Paare müssen auf der Piste sein, um eine Ronda bilden zu können? Gibt es da eine Mindestzahl? Wäre es denn überhaupt eine Milonga, wenn nur zwei Gäste anwesend wären? Was definiert die Milonga? Ist sie als soziale Begegnungsstätte für das Ausleben von Tango unabdingbar? Oder kann man den Tango nicht ebenso gut auch nur zu zweit leben? Und was ist eigentlich Zeit…?

Symbolbild „Two little dancers“ von John-Drysdale

Zugegeben, die letzte Frage hat hier nix verloren. :–P Ich wollte nur mal checken, ob Du noch da bist. Die Aufmerksamkeitspanne der Menschen scheint generell immer kürzer zu werden. Kein Wunder bei dem vielen Input.

Autonomie

Dieser Beitrag beabsichtigt nicht, all die oben aufgeworfenen Fragen detailliert und gesichert zu beantworten. Auch sollen sie keine Anklage darstellen. Ich möchte andere Tangotänzer lediglich dazu ermutigen, sich nicht von anderen wie etwa Profis, Lehrer oder Vorbildern der Szene vorkauen zu lassen, was genau Tango bedeutet und wie man ihm am besten fröhnt, sondern sich auf eine eigene, autonome Entdeckungsreise zu begeben. Besonders als Anfänger ist man sehr anfällig für Lehren, aber ebenso auch Irrlehren. Tango ist nicht per copy and paste zu erobern, auch wenn Nachahmung den Lehrer ehren mag, sondern eine sehr persönliche Sache, nämlich ein künstlerisches Sprachrohr der individuellen Persönlichkeit. Eure Idole können Euch also nur die Tür zeigen. Aber hindurchgehen müsst Ihr letztendlich alleine. ;–) Und genauso müsst Ihr alleine, also selbständig den Tango und seine mannigfaltigen Möglichkeiten erforschen, um eines Tages vielleicht ‚Erleuchtung‘ zu erlangen.

Dies bedeutet konkret, Strukturen, Definitionen und Begebenheiten, die uns als unerschütterlich serviert werden, zumindest hin und wieder auf den Prüfstand zu stellen und auf ihren Wahrheitsgehalt und ihre Allgemeingültigkeit hin zu hinterfragen. Denn nichts von dem, was wir im Tango gewohnheitsmäßig als Tradition verstehen, ist tatsächlich in Stein gemeißelt. Allenfalls gibt es eine Art Konsens unter Tangotänzern sowie Tangokulturschaffenden, den es zu respektieren gilt, d.h. wenn man diesen Personenkreisen angehören möchte. Aber realistisch betrachtet ist wohl kaum jemand unter diesen vermeintlichen Galionsfiguren Zeitzeuge der Geburtsstunde des Tango. Und selbst diejenigen, die die Geschichte des Tango eingehend studiert haben und diese als Experten weitertragen, formen sie selektiv nach ihrem eigenen ganz persönlichen Geschmack. Das geschieht unbewusst.

Kurzes Beispiel: die Ronda. Überall lernt man, sozial würde Tango ausschließlich gegen den Uhrzeigersinn in konzentrischen Bahnen getanzt werden. Demzufolge gilt die nicht einhalten als regelwidrig und unsozial. Aber nach meinen Recherchen entspringt diese Ordnung dem Wiener Walzer und wurde lediglich auf den Tango übertragen. Demnach wäre die Ronda ein österreichischer Einfluss. Dies lässt logisch den Schluss zu, dass die Paare in den frühen Anfängen entweder einer anderen Ordnung folgten, oder, was wahrscheinlicher erscheint, nach Belieben kreuz und quer durch den Raum tanzten. Bei gegenseitiger Rücksichtnahme ist dies durchaus praktikabel.

Mein Appell geht aber nun keineswegs dahin, sich bezüglich aller Riten und Gepflogenheiten grundsätzlich in Opposition zu stellen. Das Rad wurde bereits erfunden und es läuft soweit ganz gut! Würden wir ausnahmslos alle Riten, Begebenheiten, Definitionen und Regeln aushebeln, wäre der Tango irgendwann bis zur Unkenntlichkeit verwässert und hätte mit seinen argentinischen und uruguaischen Wurzeln nicht mehr viel gemein. Was genau Tradition ist, entschlüsselt man am besten im lebendigen Austausch miteinander.

Um ihn also besser zu begreifen, kommen wir nicht umhin, ein besonderes Augenmerk auf uns selbst werfen. Schließen sind wir es, die die Maßstäbe setzen.

Wir im Tango

Wir als Tangobegeisterte, also Tangotänzer, Musiker, Veranstalter, DJs, Lehrer etc. bilden soziale Sphären, in denen wir uns immer wieder begegnen. Aber was bedeutet dies konkret. Sind wir bloß Teil einer losen Menge? Oder vielleicht eine Art Gang? Sind wir strukturiert und geordnet? Hierarchisch organisiert oder vielmehr chaotischer Natur? Pack schlägt sich – Pack verträgt sich?

Oft ist ja die Rede von der „Tango-Community„, die hochgehalten wird und nach einhelliger Überzeugung möglichst breit aufgestellt florieren sollte. Keine Ahnung, warum wir überhaupt einhellig diesen Anglizimus verwenden. Ich beoachte da ein besorgniserregendes Sprachdefizit in der deutschen Tangoszene. Viele Tänzer in der Community, die bereits seit Jahren hier leben, beherrschen kein oder kaum Deutsch oder haben es nicht sehr eilig mit dem Lernen. Ich mag die englische Sprache ja auch und verwende auch oft Anglizismen, wo die Alternativen unpassend erscheinen, aber de facto ist sie hierzulande keine Amtssprache. Spanisch würde da definitiv mehr Sinn ergeben als Englisch, zumal dies die Fachsprache des Tango ist. Aber gut, bleiben wir ruhig dabei. In der Community werden munter Werte und Regeln postuliert, oft jedoch offenkundig nicht immer konsequent gelebt, d.h. aktiv mitgetragen. Wie zum Beispiel Integration. Würde sie ausnahmslos engagiert und wohlwollend praktiziert werden, würden uns nicht immer wieder Berichte erreichen von Tänzern, die sich einsam, nicht gewertschätzt, von der Gemeinschaft ausgeschlossen fühlen und im letzten Schritt ihr Leiden beenden, indem sie das Exil suchen.

Big family?

Diese Tango-Community ist unstreitig von einem mehr oder weniger starken Wir-Gefühl gekennzeichnet ist. Manche Mitglieder romantisieren die Gemeinschaft deshalb als Familie, insbesondere solche, deren sozial-familiäre Verhältnisse zerrüttet sind. Sie neigen naturgemäß dazu, im Tango eine Art Ersatzfamilie erblicken. Aber den Tatsachen entspricht dies meist nicht und nur selten sind Beziehungen dauerhaft oder annährend so tiefgreifend, wie es bei biologischen Verwandschaftsverhältnissen gemeinhin zu beobachten ist.

Beispiel: Bekommt eine Tänzerin oder ein Tanzpaar ein Kind, so jubeln viele Mitglieder den Zuwachs, der dann nicht selten auf Milongas präsentiert wird. Aber beim Jubeln und gutgemeinten Bekundungen sowie großzügig anmutenden Hilfsangeboten bleibt es in den meisten Fällen dann auch. Denn in der Regel übernimmt die Gemeinschaft keine nennenwerten erzieherischen Verpflichtungen gegenüber diesem ’neuen Mitglied der Tangofamilie‘ oder sichern es gar wirtschaftlich ab. Insofern sind Statements, die ein familiäres Miteinander postulieren, meist nur Schall und Rauch. Mehr als ein paar Tipps und Theorie sollte man da insofern nicht erwarten. Viele Menschen, und das gilt gesamtgesellschaftlich und keineswegs nur für den Tango, möchten Wärme und Geborgenheit empfangen und sich getragen fühlen, sind aber gleichzeitig kaum bereit, andere ebenso aufzufangen und zu tragen. Man ist sehr darauf bedacht, schwarze Zahlen zu schreiben. Genommen wird insofern gerne und großzügig – das Geben beschränkt sich in der Realität auf die herzliche Umarmung und diese endet auch schon mit dem Einspielen der Cortina. Über Missstände auf Milongas, die im Grunde Missstände in der Community sind, habe ich hier bereits ein wenig berichtet.

Wahre Freunde

Wenn die Gemeinschaft also keine Familie ist, so könnte man in ihr auf den ersten Blick einen großen Freundeskreis erblicken. Natürlich bilden sich innerhalb der Tango-Community Freundschaften, aber die Communities sind groß und überschneiden sich mit anderen. Klare, scharf abgegrenzte Personenkreise gibt es insofern nicht. Folglich ist nicht jeder Tänzer, den man flüchtig oder womöglich noch gar nicht kennt, automatisch ein Freund. Lediglich das Potential ist vorhanden. Nicht mehr und nicht weniger. Gleichermaßen das Potential einer Feindschaft, wohlbemerkt. Sich etwa gegenseitig den Trainingspartner auszuspannen, gehört leider auch zum Tango. Konkurrenzdenken und daraus resultierende Intrigen sind keineswegs dort seltene Phänomene, sondern an der Tagesordnung. Viele Mitglieder offenbaren eine beachtliche kriminelle Energie, wenn es darum geht, selbst voran zu kommen oder andere zu übervorteilen. Das ist Teil der dunklen Seite des Tango.

Angeachtet dessen, benötigen Vertrauen und Liebe, die eine Freundschaft kennzeichnen, üblicherweise Zeit sowie Energie um überhaupt zu gedeihen. Viele Mitglieder investieren sie gar nicht ernst mühsam, sondern gehen direkt über in eine Art Instant-Freundschaft, in welcher man die Vorzüge einer intimen und vertrauensvoll anmutenden Verbindung zwar genießt und großzügig Umarmungen austauscht, aber bei genauerem Hinsehen meist nur an der Oberfläche verweilt. Denn öffnet man sich hingegen wirklich einem anderen Menschen, impliziert dies nicht nur die Offenlegung der Lebenerfolge, sondern auch der Misserfolge, was letztendlich verwundbar macht. Das Risiko gehen immer weniger Menschen leichtfertig ein. Lieber zeichnet man ein bestimmtes Bild von sich vor, ähnlich wie auf Social Media.

In der Tango Community ist das nicht wirklich anders. Die Leute gieren geradezu nach Glanz und Glamour, nicht nach unschönen Fakten oder stimmungskillenden Schicksalsschlägen. Davon will man nichts hören. Tango will schließlich gefeiert werden, nicht betrauert. Wir sind keine Trauergemeinde! Übrigens ist die Milonga ein prima Ort, um die Flucht zu ergreifen und in der Menge abzutauchen, wenn ein Gespräch unangenehm oder langweilig wird. Schließlich wollen die meisten Besucher ihre Energiereserven dort auffüllen und nicht entleert bekommen. Diese Möglichkeit hat man im eingehenden Szenario natürlich nicht. Da bleibt nur die vollständige räumliche Flucht.

Surrogates

Einige unter euch Tangotänzern denken sich nun vermutlich: „Moment mal, ich habe viele Freunde im Tango! Außerdem dreitausend Kontakte auf Facebook. Ich verabrede mich auch gerne mit meinen Leuten. Sie sind real.“ Klar sind es echte Menschen, mit denen wir da verkehren. Nicht etwa „Surrogates“ wie im Film mit Bruce Willis. Das stelle ich auch überhaupt nicht in Abrede. Aber wir sind auch nicht soooo weit von dieser Dystopie entfernt, wie wir glauben: Zwar schicken wir nicht unsere hochentwickelten Roboter, die mit uns verlinkt sind, hinaus in die Öffentlichkeit, aber wir tragen dennoch Masken im Umgang miteinander. Frag Dich doch einmal selbst: Wie viele Deiner Tangofreunde kennen Dich wirklich? Wieviele glaubst Du, umgekehrt genau zu kennen?

Bleiben wir bei den Fakten: Was die vermeintliche Freundschaftspflege anbelangt, drehen sich die meisten Verabredungen irgendwie ausschließlich um den Tango, als wäre er unsere einzige Existenzebene. Aber Tango ist, realistisch betrachtet, nur ein kleines Puzzelteil davon. Tänzer treffen selten einfach nur so auf einen Kaffee oder einen Restaurantbesuch, zumindest nicht ohne dass davor oder danach getanzt wird oder ohne dass der Tango zumindest thematisiert wird.

Ich selbst genieße es übrigens auch, mit kultivierten Leuten über Tango zu reden, aber genauso und vielleicht sogar etwas mehr genieße ich es, mit ihnen über alle möglichen anderen Themen zu philosophieren und bewusst einen großen Bogen um die gemeinsame Leidenschaft zu machen. Das finde ich irgendwie reizvoll. Solche Gespräche sind für mich die fruchtbarsten, denn damit tritt man gemeinsam mit dem Dialogpartner den Beweis an, dass man ein Leben neben, vor oder hinter dem Tango hat, das ein Gespräch wert ist. So fühlt man sich als ganzer Mensch wahrgenommen und gewertschätzt, nicht eben nicht nur als Tango-Surrogate.

Zwischenfazit

Aber für die meisten geht nunmal Kuscheln klar vor echtem und lebensnahem Austausch. Nach meiner persönlichen Erfahrung und Beobachtung sind die meisten freundschaftlichen Verbindungen bis auf ein paar Ausnahmen jedenfalls keine wahren Freundschaften, sondern vielmehr solide Bekanntschaften. Vielleicht vergleichbar mit geschätzten Klassenkameraden. Nicht zuletzt lernen wir ja auch gemeinsam.

Im Zwischenergebnis sind wir also weder ein Familienclan noch ein überdimensionierter Freundeskreis. Aber was sind wir dann?

Streamingtipp!

Im Leben einer Frau gibt es zwei Kategorien von Männern: Helden und Schurken. Und unter den Helden befindet sich, wenn sie großes Glück hat, dieser eine besondere Mann, der sie rettet, ihre Tränen trocknet und sie wieder aufrichtet. Klingt kitschig? Mag sein. Vielleicht bist du aber bloß unromantisch.

Momentan streame ich auf Amazon Prime „Heirate meinen Mann“.  Obwohl die Schauspieler total überzogen spielen und insgesamt alles sehr theatralisch anmutet, fahre ich total auf diese koreanische Serie ab. Was für ein Plot! Und die Mode erst! :–D Nur noch ein paar Folgen fehlen mir noch von der Staffel. Ich glaube, ich brauche danach einen Therapeuten. Aber das ist es wert! :–D

[Achtung Spoileralarm!] Im tragischen Leben der Protagonistin Kang Ji-won gibt es jedenfalls diesen einen besonderen Ritter, der ihr auf ganzer Linie hilft, sie in ihren Zielen und Träumen fördert und sie in ihrem Befreiungskampf selbstaufopfernd unterstützt, sodass sie sich von ihren toxischen Beziehungen befreit, endlich ihr wahres Schicksal erfüllen kann, sich emanzipiert und (hoffentlich) glücklich sein darf. Dieser möchte für sie ihr fester Boden unten den Füßen sein.

Szene „Heirate meinen Mann“, 1. Staffel

Im echten Leben beobachtet man diese Geisteshaltung bei Männern leider nur sehr selten. Deshalb lädt die Story ja auch besonders zum Träumen ein. Und wenn ich mir das so ansehe, muss ich sagen: in Ostasien scheint die Welt noch in Ordnung. Zumindest in dieser Hinsicht. In unseren Breitengraden hingegen schwindet dieses klassische Männlichkeitsbild leider immer mehr. Wer seine Geliebte beschützt und unterstützt, gilt schnell als Pantoffelheld oder Trottel mit Helfersyndrom, der sich von der Tussie ausnutzen lässt, ironischerweise insbesondere bei Männern, die sich in ihrer Selbstbezogenheit entlarvt und von echten Männern bedroht fühlen. Applaudiert wird stattdessen nur solchen Exemplaren, die sich ausschließlich um sich selbst scheren und sich darauf konzentrieren, sich gesellschaftlichen Rang zu verschaffen. Und mit was für Blödsinn teilweise! Karriere — eine schicke Wohnung — ein schnelles Auto. Der Markengasgrill auf der Terrasse darf natürlich auch nicht fehlen. Kochen kann das vermeintliche Alphatier zwar in der Regel nicht, aber er ist quasi ein Jäger, ein wahrer Natural-Born-Griller. Das reicht heute absolut aus, um sich Bewunderung und Respekt zu schaffen. Nebenbei bemerkt ist es völlig egal, was er ganz konkret dafür tun musste oder ob er gar seine Würde dafür verhökert hat, um an diesen Punkt gelangt zu sein. Danach fragt niemand….da niemand umgekehrt gefragt werden und Rede und Antwort stehen möchte. Der Zweck heiligt ja sowieso sämtliche Mittel.

Wer dann auch noch eine führende Position im Dienstleistungssektor ergattert, die das Tragen von Krawatten erfordert, einem schicke Restaurantbesuche, regelmäßige Reisen und die austauschbare, an der Magersucht entlang schrammende Lebensabschnittsgefährtin ermöglicht, die man in Wahrheit nicht sooo gerne anfassen mag, aber sich nunmal hält, weil sie den gleichgesinnten Kumpels den gewünschten Applaus und die Anerkennung abnötigt, der hat es — geschafft! Am besten noch im Sommerurlaub Kitesurfen gehen, um auf den Fotos besonders draufgängerisch und actionhaft rüberzukommen. Dass man sich dabei aus Ungeschicklichkeit die Hand verstaucht hat, wird natürlich nicht erwähnt oder als coole Kriegsverletzung verpackt. Das Bild muss schließlich stimmen. Eine Ehefrau und Kinder sind im Lebensentwurf solcher Männer optional, aber nicht zwingend erforderlich und bis aus Weiteres auch eher hinderlich auf dem oft sehr lange andauernden Selbstfindungstrip. Mit Ü50 kann man sich immer noch eine verzweifelte 25-Jährige zur Familiengründung suchen. Bei entsprechender Finanzlage überhaupt kein Problem. Und wenn Mama noch stolz ist, ist ohnehin alles in Butter. Sie ist aber meist schon stolz, wenn ihr Bub brav seinen Teller aufgegessen hat. Viel mehr muss er nicht leisten. Ob dieser über soziale Kompetenzen verfügt oder Sinnvolles für die Welt oder seine Mitmenschen leistet, ist zweitrangig. Sie hat ihre Messlatte in Puncto Männlichkeit in der Regel schon niedrig angesetzt als sie damals ihren eigenen Mann wählte.

Alles total Banane! Aber solange das gesamte Umfeld diese Irrungen rund um das Verständnis von Männlichkeit stützt, werden diese in Wahrheit unmännlichen Egomanen nicht als solche identifiert oder hinterfragt. Man(n) ist sich einig: So muss es sein! Der bescheidene Fabrikarbeiter hingegen, der in Schichtarbeit schwere Maschinen bedient, um seine frühzeitig gegründete Familie über die Runden zu bringen, sich dabei nie beklagt und jeden Abend mit derselben rundlichen Frau das Bett teilt, welche ihre Kilos nach dem dritten Kind nicht mehr komplett loswerden konnte, gilt hingegen als Loser. Na ja selbst schuld, dass er sich für ’nen Appel und ’n Ei abrackert, finden die meisten. Er hätte sich halt erst einmal verwirklichen sollen!

Was soll man bitte dazu sagen?? — Und wenn der Egomane nicht gestorben ist, ‚verwirklicht‘ er sich noch heute….. Zwar spielen Glück und günstige Umstände durchaus eine Rolle für den Verlauf einer erfolgreichen Biographie, aber mit 30 oder allerspätestens 40 sollte man(n) schon so langsam wissen, wer man ist und endlich mal ‚angekommen‘ sein. Irgendwann sollte man schließlich leben.

Ok, der Held meiner Serie, Yu Ji-hyuk, ist zugegeben kein einfacher Arbeiter und auch alles andere als bettelarm, sondern im Gegenteil ziemlich vermögend und macht im Businessanzug mit Krawatte auch was her. Aber sein Geld ist es nicht, das ihn attraktiv macht, sondern dass er seine Position und Macht geschickt nutzt, um seiner Angebeteten zu helfen und das sogar ohne „Gegenleistung“, sprich: ohne ihr dabei gleich auf den Pelz zu rücken. Er ist ein Machertyp mit Verantwortungsbewusstsein, feiert sich dabei zu keinem Zeitpunkt, sondern verbirgt seine hohe Position und seine Anwartschaften sogar und agiert vorwiegend im Hintergrund. Das hat Stil! Selbst als seine Angebetete ein Date mit ihrer Jugendliebe wahrnimmt, leidet er zwar heimlich, aber mischt sich nicht ein und lässt sie gewähren. Sie soll glücklich werden, egal wie oder mit wem. Das hat Vorrang. So lautet sein Kredo. Natürlich hofft er auf ihre (Gegen)Liebe, genauso wie der Zuschauer auf ein Happy End hofft. Aber diesem werden starke Nerven abverlangt und auch Konzentration, denn die Koreaner basteln ziemlich komplizierte Geschichten.

Aber zurück zu den Helden. Stark, erhaben, selbstlos, wohlwollend, in sich selbst ruhend etc. Heute gibt es diese Tugenden kaum noch, jedenfalls sind sie in unseren Breitengraden nicht sehr weit verbreitet. Die meisten Männer im westlichen Kulturkreis ticken leider vielmehr so wie dieser fürchterliche Ehemann der Serien-Protagonistin, unter dem sie während der ursprünglichen Zeitlinie jahrelang gelitten hat. Unausgeglichen, aggressiv, egozentrisch, selbstgerecht, anklagend, vorteilsorientiert, gierig, untreu, verbal ausfallend. Ein launisches Riesenbaby. Kurzum ein Schurke. Abgesehen davon, dass solche Typen ihr Umfeld stets belasten und strapazieren, suchen sie die Verantwortung für die eigenen Fehlschläge in der Regel ausschließlich bei anderen, nie bei sich selbst. Zudem wollen sie zwar als verantwortungsbewusst wirken, weil sie ahnen, dass das irgendwie ‚angesagt‘ ist, aber gleichzeitig keine echten Verpflichtungen übernehmen. Alles möglichst unverbindlich. Mit Hintertürchen. Und Sicherheitsnetz! Sie sind wahre Meister der Blendung. Verfehlen sie ihre oft überzogenen und unrealistischen Lebensentwürfe, werden sie erst instabil, panisch, dann aggressiv und lassen es zu guter Letzt bei ihren Mitmenschen aus und besonders gerne bei der eigenen Partnerin, falls vorhanden. Im Extremfall führt diese Abwärtsspirale zum Femizid, wobei die dahinterstehenden Dynamiken komplex sind.

Die meisten Frauen sind leider schwach. Nur deshalb konnte sich das vorherrschende Männlichkeitsbild überhaupt in der Gesellschaft etablieren. Anstatt sich einzugestehen, dass man sich einen Schurken angelacht und Zeit verschwendet hat, reden sich viele aus Angst vor dem Alleinsein ein, mit ihrem Partner ‚das große Los‘ gezogen zu haben. So wird der Schurke zum Helden umettiketiert. Diese Propaganda wird solange betrieben bis man es irgendwann selbst glaubt. Es ist ja auch einfacher, sich ein 1-Minuten-Ei hart zu reden als sich raus in die Welt zu trauen und seinen wahren Helden zu finden. Traurig, aber so funktioniert die Welt. Kämen nur die wahren Männer zum Zug, wäre die Menschenheit vermutlich längst ausgestorben.

Ich bin jedenfalls sehr gespannt darauf, was aus der Protagonistin und ihrem Helden wird.

Lost Place: Geisterschiff „Dimitrios“

Während ich gerade in Griechenland unterwegs bin und nach neuer Inspiration suche, musste ich vor kurzem an einen besonderen Ausflug denken, den ich im Spätsommer vor zwei Jahren unternommen habe: meinen Besuch in Gytheio auf Peloponnes.

Gytheio (Griechenland, Peloponnes)

Der griechische Küstenort verfügt über eine traumhaft schöne Bucht, deren Anblick jedoch von einem rostigen Albtraum jäh durchbrochen wird: dem Schiffswrack „Dimitrios“ , welches seit dem Jahr 1981 dort ruht und surreal anmutet. Es ranken sich verschiedene Mythen rund um das Schiff, seine Fracht, den Eigner und die Strandung. Ein Bekannter aus einer nicht weit entfernten Gemeinde erzählte mir damals, es sei wahrscheinlich für Zigarettenschmuggel genutzt worden. Der damalige Kapitän sei angeblich erkrankt. Auch von Brandstiftung zwecks Verschleierung der Fracht bzw. Vernichtung von Beweisen ist die Rede. Dann wiederum soll ein technischer Defekt vorgelegen haben. Welche dieser Gerüchte stimmen und welche nicht, bleibt unklar. Es ist fast so als würde das Meer nicht nur die Substanz des Schiffes, sondern auch die Wahrheit wegspülen.

Aber ich möchte zur Abwechslung mal nicht allzu viele Worte verlieren, sondern lieber meine Aufnahmen sprechen lassen. Nur so viel: wer auf Peloponnes unterwegs ist und die Möglichkeit hat, sollte diesen besonderen Ort unbedingt besuchen. Aber was die Dimitrios angeht, besser nur gucken! Vermutlich muss ich das den meisten unter euch nicht explizit sagen, aber von Nachahmung des folgenden Videos rate ich dringend ab! Einsturzgefahr. Das Wrack ist nicht gesichert. Die zuständigen Behörden haben es einfach der Natur überantwortet und scheren sich nicht sonderlich darum. Aber nichtsdestotrotz ein sehr faszinierender lost place.

Besichtigung des Schiffswracks „Dimitrios“ bei Gytheio, Griechenland
DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner