Krisenmanagement

Wie ich euch bereits erzählt hatte, habe ich mir vor einiger Zeit die Hand verletzt. Seither begleiten zahlreiche Physiotermine, Gymnastik und Sorgen meinen Alltag. Seither investiere ich viel Zeit, Energie und Gedanken in die Wiederherstellung von Beweglichkeit, Kraft und Koordination. Vieles, was mir bis dato wichtig und lieb war, kann ich – zumindest bis auf weiteres – nicht mehr tun. Die gewohnten Fertigkeiten, über die man sich als Gesunder fast nie Gedanken macht, erobere ich nur sehr langsam und in kleinen Portionen wieder zurück. Dies ist eine meiner bisher größten Prüfungen in puncto Geduld.

Der Krisenfall

Als die erste (Teil-)Diagnose kurz nach dem Unfall gestellt war, dachte ich damals optimistisch „Ok, nochmal Glück im Unglück gehabt. In ca. 6 Wochen ist das Ganze verheilt plus vielleicht ein paar wenige Wochen Reha. Dann müsste alles wieder ok sein.“ Pustekuchen! Abgesehen davon, dass das genaue Ausmaß meiner Verletzung, also auch die Begleitschäden noch nicht absehbar waren, hatte ich nicht auf dem Schirm, was es genau bedeutet, den Alltag nur mit einer Hand zu bewältigen. Kurz gefasst, sie fehlt weit mehr als gedacht. Autofahren, Tango tanzen, Gitarre spielen, Lichtschwertchoreographie und weitere Kontaktsportarten. Alles, was für meine Zufriedenheit und Balance von Bedeutung war, brach schlagartig weg. Darunter litt ich mehr als unter den physischen Schmerzen und teilweise noch immer. Von den gewohnten Handlungen im alltäglichen Leben ganz zu schweigen.

Dieser Beitrag soll jedoch kein Klagelied werden. Denn Selbstmitleid hilft mir nicht weiter – die tatkräftige Unterstützung meines Umfeldes sowie meiner Therapeuten hingegen schon. Lieber möchte ich euch erzählen, wie ich meine Situation bewältige und mich mental über Wasser halte. Wer jetzt aber ein ausgeklügeltes Konzept zur Krisenbewältigung erwartet, den muss ich gleich enttäuschen. Es gibt keins. Ich improvisiere.

Reiseabenteuer

Den Pausenknopf zu drücken und monatelang meiner Genesung entgegenzusehen, erschein mir als trostlose Zeitverschwendung. Also entschied ich mich, einfach weiterzuleben und zu unternehmen, was meine Stimmung heben könnte und wozu ich mich zumindest halbwegs imstande sah. Anstatt zu betrauern, was ich nicht mehr kann, konzentriere ich mich auf die Dinge, die ich kann und lote meine Grenzen aus. Das gibt mir Zuversicht und Kraft.

So bin ich etwa kurz nach der OP, wie ursprünglich geplant, mit der Familie nach Griechenland gereist. Sehr kurz danach, genauer gesagt. Es war nicht leicht, unter postoperativen Schmerzen und ärztlich angeordneter Hochlagerung des Armes schadlos durch die Menschenmengen an den Terminals und Gates zu manövrieren. Aber wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Zum Glück hatte ich unterwegs tatkräftige Hilfe mit dem Gepäck bzw. Unterstützung. Ein Spaziergang war die Anreise dennoch nicht.

Für den diesjährigen Sommerurlaub hatte ich einen mehrtägigen Trip in Mittel- und Nordgriechenland organisiert. Ein weiterer Kraftakt für mich, aber nicht unmöglich. Nach einer Woche ging es auch schon mit dem Mietwagen vom Hauptquartier in Peloponnes nach Lefkada, einer traumhaft schönen Insel im Ionischen Meer. Mit Gefrierbeutel überm Arm (die halten schön dicht) und Haushaltsgummis bin ich im türkisblauen Meer baden gegangen. Um die Hand vor Überwärmung zu schützen, habe ich ein feuchten Coolingtuch aus Mikrofaser darüber drapiert und mit Wäscheklammen befestigt. Das funktionierte prima. Komplett einzutauchen und richtig zu schwimmen ist natürlich schöner, aber so ging es auch. Kein Grund, am Strand zu verweilen und auf die Abkühlung zu verzichten. Man muss sich einfach zu helfen wissen. Mit meiner Konstruktion fühlte ich mich jedenfalls wie McGyver. B–)

Aber nur am Strand zu faulenzen ist auf Dauer nichts für mich. Also erkundeten wir eine ehemalige NATO-Radarstation aus dem Kalten Krieg. Ein wahrer Lost Place, der über Seperntinen und ungesicherte Haarnadelkurven nicht leicht zu erreichen war. Dort erkundeten wir die marode, aber eindrucksvolle Anlage. Ich stieg sogar einige Leitersprossen an einer der vier Riesenschüsseln hinauf und balancierte später auf einem Betonbalken des Fundaments. Ja, alles behutsam und einhändig – mit Handschiene. Ich war einfach begeistert von diesem Ort und wollte die positive Energie nutzen, um meinen Körper daran zu erinnern, dass er trotz der Einschränkung noch ein bisschen was draufhat.

Zurück auf dem Festland besichtigten wir auf dem Weg nach Ioannina, das Nekromanteion in Acheron. Dort stieg ich in den Hades hinab, indem ich eine schmale steile Metalltreppen einhändig überwand. Richtig gelesen, wieder mal war ich im Hades, aber diesmal war es ein anderer Zugang. Es gibt mehrere verstreut in Griechenland. :–) Die Höhle war etwas unheimlich, aber auch schön kühl unter tage bei Außentemperaturen von rund 35°C.

Noch am selben Tag trafen wir in Ioannina ein. Mein erster Besuch dieser wunderschönen Stadt, aber sicher nicht mein letzter! Dank der Bemühungen eines Freundes haben wir viele Sehenswürdigkeiten in dieser geschichtsträchtigen Stadt besichtigt. Zwei Tage und zwei Nächte waren meinerseits ein bisschen knapp kalkuliert.

Auf der Rückreise zu unserem Hauptquartier auf Peloponnes besuchten wir noch die Tropfsteinhöhle von Perama, was wegen der vielen Stufen ziemlich anstrengend war. Ich musste mich mit der gesunden Hand sehr gut festhalten, weil ich keinen Sturz auf die operierte riskieren durfte. Aber trotzdem waren die Naturgebilde wunderschön sowie faszinierend und die Strapazen insofern lohnenswert.

Im direkten Anschluss machten wir noch einen kurzen Abstecher im Antike Theater von Dodoni, einem erstaunlich gut erhaltenen Amphitheater.

Apropos Theater. Auch unseren alljährlichen Besuch im Epidauros-Theater haben wir nicht ausgelassen. Die Tickets Andromache von Eurypides waren längst gebucht. Eine ziemlich coole und moderne Inszenierung. Tolle Choreos in dramatischer Beleuchtung.

Balance

Zurück in Deutschland ging es dann auch schon los mit der Physio. Parallel hierzu bekam ich Unterstützung aus der Traditionellen Chinesischen Medizin. Ich hatte und habe Glück mit meinen Therapeuten. Trotz der Therapien und meiner Anstrengungen um die Gesundheit meiner Hand, musste ich achtgeben, nicht zu sehr in diesen gewissen Krank-Modus zu verfallen. Bei den vielen Terminen passiert das schneller als einem lieb ist.

Das Praktizieren und weitergehende Erlernen von Tai Chi hilft mir dabei in vielerlei Hinsicht. Zum Glück konnte ich das Training einige Wochen nach der OP schrittweise wiederaufnehmen. Es ist aktuell die einzige regelmäßige Aktivität, die mir neben der Krankengymnastik möglich ist und somit mein Rettungsanker, wenn mich die gesundheitlichen Sorgen rund um meine Hand einholen. Daneben verhilft mir das Praktizieren auch zu einem guten Körpergefühl.

Völlig losgelöst

Das diesjähriges Sommerfest des örtlichen Luftsportvereins wollte ich eigentlich entspannt bei gutem Essen und Trinken auf festem Boden verbringen und einfach nur die Stimmung und die Flugshows genießen. Zumindest war ich fest entschlossen. Als ich dann aber die vielen Flugzeuge starten und landen sah, konnte ich es mir nicht verkneifen und stieg in einen antiken Doppeldecker (Tiger Moth), um an einem Rundflug teilzunehmen. Wieso ich auch nicht?, dachte ich mir. Schließlich brauche ich als reiner Passagier meine Hände kaum und muss nur beim Ein- und Aussteigen etwas auf mich achtgeben. Der Flug war im offenen Cockpit ein ganz besonderes Erlebnis und mein zweiter Rundflug dieser Art insgesamt. Insofern wusste ich halbwegs, was mich erwartete. Alles klappte prima und im unwahrscheinlichen Fall eines Absturzes wäre meine Hand ja nun wirklich mein geringstes Problem gewesen….

Think bigger…

Möchte man sich in eine andere, d.h. bessere Stimmung versetzen, sollte man nicht passiv darauf warten, sondern selbst aktiv werden. So lautete inzwischen mein unausgesprochenes Motto. Also folgte ich, ohne groß zu überlegen oder besondere Erwartungen, einem Aufruf eines Bekannten, setzte mich mit dem Europäischen Raumflugkontrollzentrum (kurz ESOC) in Verbindung und schon wenig später wurde ich nach Darmstadt eingeladen, um zusammen mit anderen SF-Cosplayern die Gäste während des Feierlichkeiten zum Tag der Offenen Tür anlässlich des 50-jährigen Bestehens des ESA zu unterhalten. Nach der Zusage war ich zugegeben doch etwas aufgeregt. :–D

Zwar waren die Vorbereitungen sehr anstrengend, zumal ich die operierte Hand weiterhin schonen musste, aber es war positiver Stress. Wann sonst bitte hat man schon die Gelegenheit, einen Tag lang als Volunteer für die ESA zu arbeiten und dabei weitere kleine Brücken zwischen der europäischen Raumfahrt und der Welt der Science-Fiction zu schlagen?

Ein Rückzieher kam gar nicht in Frage. Und das erwies sich auch als genau das Richtige. Am 12. September war es dann auch so weit und gemeinsam mit den anderen Cosplayer-Kollegen hielten wir die Besucher und die Mitarbeiter bei Laune als hätten wir nie etwas anderes getan. Belohnt wurde diese Tätigkeit mit wunderbaren Erinnerungen, neuen Freundschaften, spannenden Unterhaltungen, vielen lächelnden Gesichtern, großartigen Fotos und einem exklusiven Goodybag, in dem viele tolle Sachen waren. Wir waren stolze Mitglieder der ESA-Open-Days-Crew. Übrigens, der Dino auf dem Gruppenbild war kein Cosplayer, sondern ein sehr sympathischer ESA-Ingenieur, der uns kompetent durch die Kontrollräume führte.

Cosplayer-Gruppe des Open Day, ESOC Hauptkontrollraum, Darmstadt
ESOC Außengelände mit XXXL-Astronaut :–)

Während der gesamten Vorbeitungen und der Veransaltung hatte ich kaum Gelegenheit, über meine verletzte Hand nachzudenken, denn ich hatte selten so viel Spaß…. Für diese einzigartige Erfahrung bin ich sehr dankbar.

Man muss gewisse Muster im eigenen Gehirn erkennen und, falls notwendig, bewusst überschreiben. Einfach raus aus der (vermeintlichen) Wohlfühlzone!

…aaand action!

Ausnahmen bestätigen jedoch die Regel… Drei Wochen nach meinem Besuch bei der ESOC nahm ich, als persönliche Herzensangelegenheit, an einem mehrstündigen Seminar in Schauspiel und Bühnenkampf teil. Das geschah unter gründlicher Abwägung von Risiko und Nutzen. Dafür hatte ich mich schon im Frühjahr, also lange vor dem Unfall angemeldet. Da ich mich sehr darauf freute, kam eine Stornierung nicht in Frage. Die Organisatoren und Teilnehmer nahmen Rücksicht auf meine Situation. So galt es, Stöß gegen sowie Stürze auf meine Hand unbedingt zu vermeiden. Insofern war ich 200% konzentriert und darauf bedacht, keinen Mist zu bauen. Entweder hielt ich meine Hand komplett aus der Übung raus und schützte sie hinter meinem Rücken oder ich baute sie sinnvoll ein, indem ich eine verletzt Spielende agierte – was eine gewisse Ironie hat!

Fazit

Zusammenfassend könnte man sagen, dass eine gesunde Mischung aus Abenteuerlust und Übermut meine medizinische Therapie gut ergänzt. Für mich funktioniert das, neben meiner Arbeit, die mich auf Trab hält, bisher ganz gut. Aber man sollte seine Fähigkeit und Grenzen jederzeit kennen. Von meinem Umfeld ernte ich für meine Aktivitäten und Resizilienz überwiegend Bewunderung, was mich wiederum verwundert, denn im Grunde möchte ich einfach nur leben, meine Tage sinnvoll, d.h. mit angenehmen Menschen und schönen Unternehmungen, verbringen. Nicht mehr und nicht weniger. Nur weil ich eingeschränkt bin, ändert das nicht mein Wesen. Meine Neugier und Abenteuerlust sind ungebrochen. Mir fiel auch erst vor kurzem auf, dass ich mir viel zugemutet habe. Insofern dient dieser Beitrag nicht nur der Berichterstattung und eurer Unterhaltung, sondern auch meiner persönlichen Aufarbeitung. Ich werde in den kommenden Wochen vielleicht trotzdem mal einen Gang runterschalten. Mit meinen Entscheidungen bin ich jedoch im Reinen und nur das zählt letztendlich. Jedenfalls bin froh, wieder vieles machen zu können und z.B. wieder beidhändig schreiben zu können, wenn auch langsamer als zuvor. Mit diesem etwas lang geratenen Post dürfte ich das unter Beweis gestellt haben. :–D

Eine andere Alternative (Satire)

[überarbeitet]

Eine dunkle Bedrohung

Es sind schon turbulente Zeiten. Die Bundestagswahl rückt näher. Damit steigt unweigerlich die Spannung, welche zusammengeflickte Koalition diesmal dabei rauskommt, ob diese zur Abwechslung „lebensfähig“ und überhaupt demokratischer Natur sein wird….

Nachdem CDU-Chef Friedrich Merz wie eine Abrissbirne die Brandmauer mal eben zerstört haben soll und damit große Empörung auslöste, bemüht er sich nun händeringend und gleichzeitig selbstzufrieden um Schadensbegrenzung. Gleichwohl scheint er die dadurch erzeugte Aufmerksamkeit irgendwie zu genießen oder zumindest nicht allzu sehr darunter zu leiden. So zumindest mein Eindruck von seinen jüngsten Auftritten. Frei nach dem Motto: es gibt keine schlechte PR. Nicht unbedingt der klügste Schachzug, wenn man mich fragt.

Das schwache Glied in der Verteidigungslinie um den Erhalt von Demokratie und Freiheit, das ich vor kurzem in meinem letzten Beitrag prognostiziert habe, scheint damit unschwer ausgemacht. Überraschend kam es nicht. Vielen scheint es entfallen zu sein, aber die AfD wurde aus der rechten Hüftprothese Rippe der CDU geschaffen. Nun stellte Merz zuletzt ostentativ klar, dass es keine Zusammenarbeit mit der AfD geben wird. Ich möchte es ihm glauben.

Ich finde es übrigens grundsätzlich nicht schön, wenn jemand wie die Sau durchs Dorf getrieben wird. Merz hatte schon vor der Merkel-Ära viele Bewunderer innerhalb seiner Partei und das gewiss nicht ohne Grund. Auch finde ich nicht sonderlich viel Gefallen an der politischen Metapher der Brandmauer, denn diese trennt nicht nur räumliche Bereiche, sondern genau genommen Menschen von einander und zwar in nicht gerade konstruktiver Weise. Selbstschutz samt der Verteidigung der eigenen Werte und der bevorzugten Lebensweise ist zweifellos ein Naturrecht und somit sinnvoll und wichtig. Stigmatisierung von Personen oder Gruppen hingegen kontraproduktiv, denn es spaltet die Menschen.

Aber nun genug davon, schließlich reden wir von einem möglichen(!) Kanzler-Kandidaten als sei er bereits Bundeskanzler. Als seien die Bundestagswahlen kein heiliges Instrument unserer Demokratie, sondern bloß noch reine Formsache. Irgendwie traurig.

Herausforderung Meinungsaustausch

Anstatt sich im Wahlkampf alles Mögliche gegen den Kopf zu werfen und zu unterstellen, wäre echte Kommunikation der bessere Schlüssel. Es sollte in jeder Kontroverse, wie z.B. hier in der Migrations- und Asyldebatte, Raum für Dialoge blieben. Das Problem ist nur, dass es inmitten unserer Gesellschaft Menschen mit teilweise sehr extremen Geisteshaltungen und Ansichten gibt, die von einem gesitteten Meinungsaustausch rein gar nichts halten. Sie haben recht und alle anderen automatisch unrecht, nehmen sich mehr Freiheiten heraus als sie anderen zugestehen wollen, übertönen die Meinungen anderer lauthals oder möchten ihnen am liebsten gleich einen Maulkorb verpassen. Mit solchen Leuten ist es schwer zu verhandeln oder überhaupt erst zu reden, denn sie haben null Interesse, anderen fair oder auf Augenhöhe zu begegnen und auch kein offenes Ohr für Menschen, die ihre Meinung nicht blind und unkritisch teilen.

Gründe der gestörten Kommunikation

Gegenseitiger Respekt ist jedoch für einen fruchtbaren und ergebnisoffenen Meinungsaustausch und dem Erlangen eines gemeinsamen Konsenses unabdingbar. Der Diskussionsunfähigkeit oder besser gesagt Diskussionsunwilligkeit liegen meist psychische Probleme zugrunde. Solche Störungen hindern Betroffene oft auch daran, den eigenen Wertekompass zu überprüfen bzw. überprüfen zu wollen. Dieser bleibt möglichst unangetastet, denn das Problem sind immer nur die Anderen – nie man selbst. Vielmehr ist es aus ihrer Sicht ihr Gegenüber, welches schlicht dumm, ignorant, böswillig oder außerstande ist, über den Tellerrand hinauszusehen usw. Toleranz einschließlich Frustrationstoleranz scheinen ein neues Rekordtief in unserer Gesellschaft zu erreichen.

Mit Anfeindungen bezüglich meiner Haltung zu bestimmten sozialen oder politischen Themen und Entwicklungen hatte auch ich schon in der Vergangenheit zu kämpfen und das obwohl ich mit ihr weder sonderlich inflationär noch aggressiv hausiere. In solchen Diskussionen wurde mir ein Mitspracherecht entweder notlos abgesprochen oder nicht in vollem Umfang zuerkannt. Aus unterschiedlichen Motiven, die ich meist erst zu einem viel späteren Zeitpunkt begriffen habe. Manchmal eckt man sogar schon durch den Umstand an, dass man zu einem bestimmten Thema oder Sachverhalt überhaupt eine Meinung vertritt und hierzu bereits ein gewisses Wissensfundament aufgebaut hat. Oder einfach nur durch den Umstand, dass man ein bestimmtes Geschlecht hat oder einer anderen Ethnie entstammt. Alles schon erlebt. Aber mein Zug fährt weiter….

Mittlerweile überlege ich mir im Vorfeld jedenfalls genau, auf welche Debatte ich mich einlassen möchte und vor allem mit wem. Mit zunehmendem Alter und Reife lerne ich energiesparend zu wirtschaften und es sind mir nicht automatisch alle Themen wichtig, nur weil das ganze Land sie gerade diskutiert. Ehrlich gesagt, diskutiere ich über viele Themen lieber als über Politik, aber in diesen Tagen ist das nur schwer zu vermeiden. Das Verb debattieren bedeutet übrigens soviel wie verhandeln, erörtern oder streiten. Es wurde im Laufe der Zeit etwas weichgespült. Ursprünglich stammt es aus dem französischen Wort débattre (altfr. debatre), welches wiederum aus dem lateinischen battuere abgeleitet ist, das übersetzt nichts Geringeres als schlagen bedeutet. Man schlägt sich in einer Debatte genau genommen und zwar mit Worten. Aua!

Indiviudueller Geisteszustand ein Politikum?

Zurück zu den psychischen Problemen. Laut Statistischem Bundesamt haben mindestens 20 Prozent der Menschen in Deutschland welche. Dass es sie in der Gesellschaft gibt, haben wir längst akzeptiert. Es liegt mir fern, sie zu stigmatisieren, denn die meisten leiden leise und schaden anderen in ihrer Not nicht. Wer außerdem nie einen Tiefpunkt im Leben hatte, werfe den ersten Stein! Übertragen auf unsere Legislative ist diese Statistik jedoch etwas besorgniserregend. Denn von aktuell 733 Abgeordneten im Bundestag (wie groß soll das Ding denn noch werden?) sitzen, dieser Statistik zufolge, also rein theoretisch wohlgemerkt, mindestens 146 Menschen, die unter seelischen Problemen leiden. Die AfD hat gegenwärtig 76 Sitze; insofern kann man rechnerisch nicht behaupten, dass die problematischen Persönlichkeiten allesamt nur in dieser Fraktion zu verorten wären. Das muss man bei solchen Überlegungen fairerweise im Hinterkopf behalten.

Dies alles ist vor folgendem Hintergrund relevant: Die Volksvertreter einer modernen Demokratie sollten ausschließlich zum Wohle des Volkes handeln. Sie tragen damit viel Verantwortung. Im Sinne einer verantwortungsbewussten Entscheidungsfindung sollten sie also – im Idealfall – mental entsprechend solide und gesund aufgestellt sein und nicht etwa labil sein, psychische Störungen aufweisen und ihr Urteilsvermögen von persönlichen Befindlichkeiten oder egoistischen Bestrebungen abhängig machen. Was ich fordere, ist natürlich absolut unrealistisch, aber ich möchte meinen Gedankengang dennoch gerne fortführen.

Option 1: prüfen

Bundestagsabgeordnete (MdB) sind offiziell nur ihrem eigenen Gewissen unterworfen. Da wäre es doch nicht verwerflich als Bürger freundlich nachzuhaken, wie es um dieses denn so bestellt ist. Eine Idee, um diesem Anspruch an einen normalen psychischen Gesundheitszustand gerecht zu werden, welcher eigentlich nur ein Mindestanspruch angesichts der Diäten und beachtlichen Aufwandsentschädigungen der Abgeordneten ist, wäre es, diese vor ihrem Einzug ins Parlament einer eingehenden psychologischen Begutachtung zu unterziehen. Quasi als letzte Schranke. Soviel Zeit sollte doch sein! Piloten werden schließlich auch psychologisch getestet und die tragen nicht die Verantwortung über 80 Mio. Menschen. Vereinzelt wird die Psychologie der MdBs wissenschaftlich diskutiert, aber das Ganze wäre noch ausbaufähig.

Option 2: ersetzen

Als Fan des Science-Fiction drängt sich mir jedoch ein ganz anderer Lösungsansatz auf: KI. Die Künstliche Intelligenz ist derzeit bekanntlich überall auf dem Vormarsch und erobert immer mehr Anwendungsgebiete. Und das nicht nur fiktiv, sondern ganz und gar real. Da frage ich mich, könnten wir nicht einfach eine KI mit unseren Werten und Idealen füttern und trainieren, sie regelmäßig dahingehend updaten und ihr die Regierung Deutschlands überantworten, sodass sie Entscheidungen zu unserem Wohle trifft? Absurd? Warum? Die meisten Abgeordneten und Minister kenne ich schließlich auch nicht persönlich. Wenn ich Fremden blind vertrauen soll, warum dann nicht ebenso gut einer KI? Vielleicht könnte eine solche diese Aufgabe ja besser erfüllen als so mancher Mensch….

Viel Freude beim Kopfkino! Und gern geschehen. ;–) In wenigen Wochen sind wir hoffentlich schlauer. Lasst Euch möglichst nicht verklaven! Weder von Menschen, noch von Maschinen….

Let’s talk about Klingons

Am 22. November 2024 besuchte ich in sehr angenehmer Gesellschaft zum keine Ahnung wievielten Mal den traditionellen Star-Trek-Vortrag von Dr. Hubert Zitt im Planetarium Mannheim. Ich habe längst aufgehört meine Besuche zu zählen…. Diesjähriges Thema: „Klingonen – Wer sie sind und woher ihre Sprache kommt“. Als Star-Trek-Fan war meine Vorfreude natürlich riesig!

Nach einer interessanten deutschsprachigen Einleitung über die temperamentvolle Alienrasse, überließ Zitt keinem geringeren als dem Erfinder der klingonischen Sprache, dem Linguisten Dr. Marc Okrand höchstpersönlich das Wort. Mit diesem besonderen Gast im „Gepäck“ übertraf Zitt sich selbst.

Okrand bot im Rahmen seines ausführlichen und englischsprachigen Vortrags spannende Einblicke in die Entstehungsgeschichte und die Entwicklung seiner Aliensprache. Im Anschluss gab es noch die Möglichkeit, entspannt mit ihm ein paar Worte zu wechseln und Bilder zu machen. Ich habe mir ein Lexikon von Okrand signieren lassen. Dabei ignorierte ich meine innere Stimme, mich bloß nicht zu blamieren und bedankte mich schließlich brav auf Klingonisch bei ihm. Er sowie einige Fans in Hörreichweite fanden’s offenbar lustig. Vielleicht lag es aber auch nur an meiner Intonation… :–D Aber wann bitteschön hat man denn die Gelegenheit, mit dem Vater der klingonischen Sprache Klingonisch zu reden?

Die Veranstaltung war komplett ausgebucht. Neben Science-Fiction-Fans, kamen einige Cosplayer in beeindruckenden Kostümen. Auch der deutsche Experte der klingonischen Sprache, Lieven L. Litaer, war erschienen. Und erstmals gab es einen Verkaufsstand mit einer tollen Auswahl an Merchandising-Produkten im Foyer, sodass sich die Veranstaltung fast schon wie eine kleine Mini-Con anfühlte. Ein insgesamt gelungener und unvergesslicher Abend! Ein dickes Dankeschön an die Organisatoren!

Was soll ich dazu noch groß sagen? – Mehr davon!

Abschließend einige Eindrücke in Farbe:

Dr. Marc Okrand (Mitte) und Dr. Hubert Zitt (rechts)
Dr. Marc Okrand — Schnappschuss: Melinda M.
Meine Bodyguards :–)
Das klingonische Emblem zierte an diesem Abend die Planetariumskuppel
Floyer des Planetariums

(Quelle Beitragsbild: Wikipedia)

Faszination Tango-Community – Teil 1

Stellt Dir vor, es ist Milonga und keiner geht hin. Keiner außer Dir und eine weitere Person, wie etwa Deine Begleitung oder vielleicht jemand Fremdes, den Du angenehm findest und mit dem Du grundsätzlich tanzen möchtest. Das Parkett glänzt, die Beleuchtung ist stimmungsvoll, der DJ sitzt artig am Pult und die Musik spielt. Alles ist perfekt. Nur die anderen Gäste fehlen. Würdest Du unter dieser Prämisse in der für Dich gewohnten Dauer dieser Milonga beiwohnen und auch die Anzahl von Tandas tanzen, die Deinem Durchschnitt entsprechen?

Nein? Warum nicht? Wie viele verschiedene Tanzpartner benötigst Du denn, damit die Milonga für Dich befriedigend ist? Oder anders gefragt: Ist der Genuss für Dich gemindert, wenn Du keine Aussicht darauf hast, schon bald in die Arme des nächsten Tanzpartners zu versinken? Wieviele Tänzer braucht man denn generell, um Tango zu tanzen? Und wieviele konkret, damit von einem sog. Social Tango die Rede sein kann? Wie viele Paare müssen auf der Piste sein, um eine Ronda bilden zu können? Gibt es da eine Mindestzahl? Wäre es denn überhaupt eine Milonga, wenn nur zwei Gäste anwesend wären? Was definiert die Milonga? Ist sie als soziale Begegnungsstätte für das Ausleben von Tango unabdingbar? Oder kann man den Tango nicht ebenso gut auch nur zu zweit leben? Und was ist eigentlich Zeit…?

Symbolbild „Two little dancers“ von John-Drysdale

Zugegeben, die letzte Frage hat hier nix verloren. :–P Ich wollte nur mal checken, ob Du noch da bist. Die Aufmerksamkeitspanne der Menschen scheint generell immer kürzer zu werden. Kein Wunder bei dem vielen Input.

Autonomie

Dieser Beitrag beabsichtigt nicht, all die oben aufgeworfenen Fragen detailliert und gesichert zu beantworten. Auch sollen sie keine Anklage darstellen. Ich möchte andere Tangotänzer lediglich dazu ermutigen, sich nicht von anderen wie etwa Profis, Lehrer oder Vorbildern der Szene vorkauen zu lassen, was genau Tango bedeutet und wie man ihm am besten fröhnt, sondern sich auf eine eigene, autonome Entdeckungsreise zu begeben. Besonders als Anfänger ist man sehr anfällig für Lehren, aber ebenso auch Irrlehren. Tango ist nicht per copy and paste zu erobern, auch wenn Nachahmung den Lehrer ehren mag, sondern eine sehr persönliche Sache, nämlich ein künstlerisches Sprachrohr der individuellen Persönlichkeit. Eure Idole können Euch also nur die Tür zeigen. Aber hindurchgehen müsst Ihr letztendlich alleine. ;–) Und genauso müsst Ihr alleine, also selbständig den Tango und seine mannigfaltigen Möglichkeiten erforschen, um eines Tages vielleicht ‚Erleuchtung‘ zu erlangen.

Dies bedeutet konkret, Strukturen, Definitionen und Begebenheiten, die uns als unerschütterlich serviert werden, zumindest hin und wieder auf den Prüfstand zu stellen und auf ihren Wahrheitsgehalt und ihre Allgemeingültigkeit hin zu hinterfragen. Denn nichts von dem, was wir im Tango gewohnheitsmäßig als Tradition verstehen, ist tatsächlich in Stein gemeißelt. Allenfalls gibt es eine Art Konsens unter Tangotänzern sowie Tangokulturschaffenden, den es zu respektieren gilt, d.h. wenn man diesen Personenkreisen angehören möchte. Aber realistisch betrachtet ist wohl kaum jemand unter diesen vermeintlichen Galionsfiguren Zeitzeuge der Geburtsstunde des Tango. Und selbst diejenigen, die die Geschichte des Tango eingehend studiert haben und diese als Experten weitertragen, formen sie selektiv nach ihrem eigenen ganz persönlichen Geschmack. Das geschieht unbewusst.

Kurzes Beispiel: die Ronda. Überall lernt man, sozial würde Tango ausschließlich gegen den Uhrzeigersinn in konzentrischen Bahnen getanzt werden. Demzufolge gilt die nicht einhalten als regelwidrig und unsozial. Aber nach meinen Recherchen entspringt diese Ordnung dem Wiener Walzer und wurde lediglich auf den Tango übertragen. Demnach wäre die Ronda ein österreichischer Einfluss. Dies lässt logisch den Schluss zu, dass die Paare in den frühen Anfängen entweder einer anderen Ordnung folgten, oder, was wahrscheinlicher erscheint, nach Belieben kreuz und quer durch den Raum tanzten. Bei gegenseitiger Rücksichtnahme ist dies durchaus praktikabel.

Mein Appell geht aber nun keineswegs dahin, sich bezüglich aller Riten und Gepflogenheiten grundsätzlich in Opposition zu stellen. Das Rad wurde bereits erfunden und es läuft soweit ganz gut! Würden wir ausnahmslos alle Riten, Begebenheiten, Definitionen und Regeln aushebeln, wäre der Tango irgendwann bis zur Unkenntlichkeit verwässert und hätte mit seinen argentinischen und uruguaischen Wurzeln nicht mehr viel gemein. Was genau Tradition ist, entschlüsselt man am besten im lebendigen Austausch miteinander.

Um ihn also besser zu begreifen, kommen wir nicht umhin, ein besonderes Augenmerk auf uns selbst werfen. Schließen sind wir es, die die Maßstäbe setzen.

Wir im Tango

Wir als Tangobegeisterte, also Tangotänzer, Musiker, Veranstalter, DJs, Lehrer etc. bilden soziale Sphären, in denen wir uns immer wieder begegnen. Aber was bedeutet dies konkret. Sind wir bloß Teil einer losen Menge? Oder vielleicht eine Art Gang? Sind wir strukturiert und geordnet? Hierarchisch organisiert oder vielmehr chaotischer Natur? Pack schlägt sich – Pack verträgt sich?

Oft ist ja die Rede von der „Tango-Community„, die hochgehalten wird und nach einhelliger Überzeugung möglichst breit aufgestellt florieren sollte. Keine Ahnung, warum wir überhaupt einhellig diesen Anglizimus verwenden. Ich beoachte da ein besorgniserregendes Sprachdefizit in der deutschen Tangoszene. Viele Tänzer in der Community, die bereits seit Jahren hier leben, beherrschen kein oder kaum Deutsch oder haben es nicht sehr eilig mit dem Lernen. Ich mag die englische Sprache ja auch und verwende auch oft Anglizismen, wo die Alternativen unpassend erscheinen, aber de facto ist sie hierzulande keine Amtssprache. Spanisch würde da definitiv mehr Sinn ergeben als Englisch, zumal dies die Fachsprache des Tango ist. Aber gut, bleiben wir ruhig dabei. In der Community werden munter Werte und Regeln postuliert, oft jedoch offenkundig nicht immer konsequent gelebt, d.h. aktiv mitgetragen. Wie zum Beispiel Integration. Würde sie ausnahmslos engagiert und wohlwollend praktiziert werden, würden uns nicht immer wieder Berichte erreichen von Tänzern, die sich einsam, nicht gewertschätzt, von der Gemeinschaft ausgeschlossen fühlen und im letzten Schritt ihr Leiden beenden, indem sie das Exil suchen.

Big family?

Diese Tango-Community ist unstreitig von einem mehr oder weniger starken Wir-Gefühl gekennzeichnet ist. Manche Mitglieder romantisieren die Gemeinschaft deshalb als Familie, insbesondere solche, deren sozial-familiäre Verhältnisse zerrüttet sind. Sie neigen naturgemäß dazu, im Tango eine Art Ersatzfamilie erblicken. Aber den Tatsachen entspricht dies meist nicht und nur selten sind Beziehungen dauerhaft oder annährend so tiefgreifend, wie es bei biologischen Verwandschaftsverhältnissen gemeinhin zu beobachten ist.

Beispiel: Bekommt eine Tänzerin oder ein Tanzpaar ein Kind, so jubeln viele Mitglieder den Zuwachs, der dann nicht selten auf Milongas präsentiert wird. Aber beim Jubeln und gutgemeinten Bekundungen sowie großzügig anmutenden Hilfsangeboten bleibt es in den meisten Fällen dann auch. Denn in der Regel übernimmt die Gemeinschaft keine nennenwerten erzieherischen Verpflichtungen gegenüber diesem ’neuen Mitglied der Tangofamilie‘ oder sichern es gar wirtschaftlich ab. Insofern sind Statements, die ein familiäres Miteinander postulieren, meist nur Schall und Rauch. Mehr als ein paar Tipps und Theorie sollte man da insofern nicht erwarten. Viele Menschen, und das gilt gesamtgesellschaftlich und keineswegs nur für den Tango, möchten Wärme und Geborgenheit empfangen und sich getragen fühlen, sind aber gleichzeitig kaum bereit, andere ebenso aufzufangen und zu tragen. Man ist sehr darauf bedacht, schwarze Zahlen zu schreiben. Genommen wird insofern gerne und großzügig – das Geben beschränkt sich in der Realität auf die herzliche Umarmung und diese endet auch schon mit dem Einspielen der Cortina. Über Missstände auf Milongas, die im Grunde Missstände in der Community sind, habe ich hier bereits ein wenig berichtet.

Wahre Freunde

Wenn die Gemeinschaft also keine Familie ist, so könnte man in ihr auf den ersten Blick einen großen Freundeskreis erblicken. Natürlich bilden sich innerhalb der Tango-Community Freundschaften, aber die Communities sind groß und überschneiden sich mit anderen. Klare, scharf abgegrenzte Personenkreise gibt es insofern nicht. Folglich ist nicht jeder Tänzer, den man flüchtig oder womöglich noch gar nicht kennt, automatisch ein Freund. Lediglich das Potential ist vorhanden. Nicht mehr und nicht weniger. Gleichermaßen das Potential einer Feindschaft, wohlbemerkt. Sich etwa gegenseitig den Trainingspartner auszuspannen, gehört leider auch zum Tango. Konkurrenzdenken und daraus resultierende Intrigen sind keineswegs dort seltene Phänomene, sondern an der Tagesordnung. Viele Mitglieder offenbaren eine beachtliche kriminelle Energie, wenn es darum geht, selbst voran zu kommen oder andere zu übervorteilen. Das ist Teil der dunklen Seite des Tango.

Angeachtet dessen, benötigen Vertrauen und Liebe, die eine Freundschaft kennzeichnen, üblicherweise Zeit sowie Energie um überhaupt zu gedeihen. Viele Mitglieder investieren sie gar nicht ernst mühsam, sondern gehen direkt über in eine Art Instant-Freundschaft, in welcher man die Vorzüge einer intimen und vertrauensvoll anmutenden Verbindung zwar genießt und großzügig Umarmungen austauscht, aber bei genauerem Hinsehen meist nur an der Oberfläche verweilt. Denn öffnet man sich hingegen wirklich einem anderen Menschen, impliziert dies nicht nur die Offenlegung der Lebenerfolge, sondern auch der Misserfolge, was letztendlich verwundbar macht. Das Risiko gehen immer weniger Menschen leichtfertig ein. Lieber zeichnet man ein bestimmtes Bild von sich vor, ähnlich wie auf Social Media.

In der Tango Community ist das nicht wirklich anders. Die Leute gieren geradezu nach Glanz und Glamour, nicht nach unschönen Fakten oder stimmungskillenden Schicksalsschlägen. Davon will man nichts hören. Tango will schließlich gefeiert werden, nicht betrauert. Wir sind keine Trauergemeinde! Übrigens ist die Milonga ein prima Ort, um die Flucht zu ergreifen und in der Menge abzutauchen, wenn ein Gespräch unangenehm oder langweilig wird. Schließlich wollen die meisten Besucher ihre Energiereserven dort auffüllen und nicht entleert bekommen. Diese Möglichkeit hat man im eingehenden Szenario natürlich nicht. Da bleibt nur die vollständige räumliche Flucht.

Surrogates

Einige unter euch Tangotänzern denken sich nun vermutlich: „Moment mal, ich habe viele Freunde im Tango! Außerdem dreitausend Kontakte auf Facebook. Ich verabrede mich auch gerne mit meinen Leuten. Sie sind real.“ Klar sind es echte Menschen, mit denen wir da verkehren. Nicht etwa „Surrogates“ wie im Film mit Bruce Willis. Das stelle ich auch überhaupt nicht in Abrede. Aber wir sind auch nicht soooo weit von dieser Dystopie entfernt, wie wir glauben: Zwar schicken wir nicht unsere hochentwickelten Roboter, die mit uns verlinkt sind, hinaus in die Öffentlichkeit, aber wir tragen dennoch Masken im Umgang miteinander. Frag Dich doch einmal selbst: Wie viele Deiner Tangofreunde kennen Dich wirklich? Wieviele glaubst Du, umgekehrt genau zu kennen?

Bleiben wir bei den Fakten: Was die vermeintliche Freundschaftspflege anbelangt, drehen sich die meisten Verabredungen irgendwie ausschließlich um den Tango, als wäre er unsere einzige Existenzebene. Aber Tango ist, realistisch betrachtet, nur ein kleines Puzzelteil davon. Tänzer treffen selten einfach nur so auf einen Kaffee oder einen Restaurantbesuch, zumindest nicht ohne dass davor oder danach getanzt wird oder ohne dass der Tango zumindest thematisiert wird.

Ich selbst genieße es übrigens auch, mit kultivierten Leuten über Tango zu reden, aber genauso und vielleicht sogar etwas mehr genieße ich es, mit ihnen über alle möglichen anderen Themen zu philosophieren und bewusst einen großen Bogen um die gemeinsame Leidenschaft zu machen. Das finde ich irgendwie reizvoll. Solche Gespräche sind für mich die fruchtbarsten, denn damit tritt man gemeinsam mit dem Dialogpartner den Beweis an, dass man ein Leben neben, vor oder hinter dem Tango hat, das ein Gespräch wert ist. So fühlt man sich als ganzer Mensch wahrgenommen und gewertschätzt, nicht eben nicht nur als Tango-Surrogate.

Zwischenfazit

Aber für die meisten geht nunmal Kuscheln klar vor echtem und lebensnahem Austausch. Nach meiner persönlichen Erfahrung und Beobachtung sind die meisten freundschaftlichen Verbindungen bis auf ein paar Ausnahmen jedenfalls keine wahren Freundschaften, sondern vielmehr solide Bekanntschaften. Vielleicht vergleichbar mit geschätzten Klassenkameraden. Nicht zuletzt lernen wir ja auch gemeinsam.

Im Zwischenergebnis sind wir also weder ein Familienclan noch ein überdimensionierter Freundeskreis. Aber was sind wir dann?

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