Einer meiner früheren Beiträge hatte den Titel The Imitation Game und befasste sich mit Aspekten darüber, wie sich Gemeinschaften unterscheiden und was sie beeinflusst. Der Titel war inspiriert durch den gleichnamigen Film über das Leben von Alan Turing, den viele als den Vater der modernen Informatik bezeichnen. Eines der berühmtesten von Turing geschaffenen Prinzipien ist der Turing-Test, mit dem man ein System als künstliche Intelligenz klassifizieren kann. Das Prinzip ist einfach. Nehmen wir an, ein Mensch interagiert über eine Schnittstelle mit etwas, das ein Chat, ein Spiel etc. sein könnte. Wenn die Person während der Interaktion nicht erkennen kann, dass sie mit einer Art Maschine interagiert, oder anders gesagt, wenn sie das Gefühl hat, mit einem anderen Menschen zu interagieren, dann kann das System auf der anderen Seite als KI eingestuft werden.
Wer schon einmal versucht hat, mit ChatGPT und anderen ähnlichen Chatbots zu chatten, weiß, dass die Antworten eine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem Dialog mit einem Menschen aufweisen. Diese Tools werden von Menschen bereits als KI eingestuft. Viele jedoch, wie Noam Chomsky, stellen fest, dass die Maschine die Begriffe, über die sie schreibt, nicht versteht. Diese Tools arbeiten bisher mehr oder weniger als Prognose-Tools. Sie haben unzählige Texten erfasst und können berechnen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein Wort auf ein anderes folgt, und so konstruieren sie ihre Antworten. Abgesehen vom Fakten-Check und anderen Bedenken möchte ich mich hier auf das letztendliche Potenzial der KI für Tango konzentrieren.
Wie wir oft zu sagen pflegen (und ich in fast jedem meiner Beitrag schreibe), ist Tango wie ein Dialog zwischen den Partnern. Tools wie ChatGPT könnten in Zukunft zahlloseso Videos von tanzenden Menschen analysieren, um Choreografien zu entwickeln oder sogar Choreografien im Handumdrehen anhand eines bestimmten Musikstücks und der Live-Reaktionen eines menschlichen Partners zu erstellen. Sie könnten das tun, was ein gewöhnliches Paar auf der Tanzfläche so tut. Das Einzige, was noch fehlt, ist die Schnittstelle… eine Möglichkeit, mit dem Partner zu kommunizieren (Informationen zu übermitteln und zu empfangen).
Blick in die Robotik
Die Robotik ist ein weiterer Bereich, der in den letzten Jahren erstaunliche Fortschritte gemacht hat. Boston Dynamics hat bereits viele Videos von Robotern veröffentlicht, die zu vorprogrammierten Choreografien tanzen. Natürlich erfordert das Tanzen von Tango eine andere, menschenähnlichere Form eines Roboters, aber ich denke, auch das ist nicht mehr weit entfernt. In Bereichen wie der Erotikindustrie wird bereits an Aspekten der Robotertechnik gearbeitet, um sie menschlicher zu machen, sogar was den Tastsinn anbelangt.
Berücksichtigt man all diese Aspekte, ist es also durchaus denkbar, dass Roboter auf viele verschiedene Arten sowie auch Tänze eingesetzt werden, wobei der Tango einer davon ist. Die Anwendungsbereiche könnten vom ganz gewöhnlichen Tangolehrer oder Übungspartner, der die für den Tanz erforderliche Körpermechanik erklären und lehren kann, bis hin zum Ersatz von Taxitänzern reichen. Die Frage ist, ob wir als Menschen sie akzeptieren würden und bis zu welchem Punkt? Würden solche Anwendungen sogar zu weiteren Stilrichtungen in den Communitys führen, wie die bereits bestehenden Stile Salon, Milonguero, Nuevo etc.? Würden die Menschen das Tanzen mit einem Roboter als echten Tanz ansehen… oder als etwas anderes? Wären wir imstande, vielleicht sogar Showaufführungen von Mensch-Roboter-Tänzen zu akzeptieren?
Würdest du mit mir tanzen?
Die grundsätzliche Frage, die dem Ganzen zugrunde liegt, lautet also: Würdest du mit einem solchen Roboter tanzen? Angenommen, es wäre ihm möglich, sich wie ein Mensch zur Musik zu bewegen und auf deine Bewegungen zu reagieren… würdest du es in Betracht ziehen, mit ihm zu tanzen? Ich habe diese Frage vor ein paar Wochen in der Gruppe Tango Friends gestellt, die etwa 20000 Mitglieder hat. Die Diskussion war recht interessant, und ich muss sagen, dass viele ihn für das Unterrichten und Üben in Betracht ziehen würden, aber weitaus weniger würden ihn für eine Tanda in einer Milonga bevorzugen (obwohl es durchaus auch Antworten gab, die dies befürworteten). Einige gaben wiederum ganz klar an, dass sie nicht einmal darüber nachdenken würden. Offensichtlich gehen die Meinungen zu diesem Thema weit auseinander, und ich erwarte, dass sich die Stimmung in der Zukunft je nach technologischem Fortschritt ändern wird.
Interessanterweise habe ich die gleiche Frage vor einigen Monaten auch ChatGPT gestellt und ich muss sagen, dass ich von der Antwort wirklich beeindruckt war. Vor allem als es um die Gründe ging, warum man dies tun würde. Die meisten Antworten von ChatGPT waren die gleichen wie die, die die Leute in ihren Antworten genannt haben. Einer der Gründe, der in den Antworten der Leute übersehen wurde, war jedoch die Sozialangst. Ich verstehe, dass die meisten Menschen in einer Facebook-Gruppe zum Thema Tango ihre Ängste überwunden haben, also ist es nur natürlich, sie nicht zu erwähnen. Außerdem kann es ein Tabu sein, solche Ängste und Befürchtungen in einer Gruppe von tausend potenziellen Partnern offen darzulegen. Aber dieser Grund ist womöglich eine Anwendungsmöglichkeit für die Robotik im Tango, die uns dabei behilflich sein könnte, es denjenigen von uns leichter zu machen, die tatsächlich mit solchen Schwierigkeiten konfrontiert sind. Womöglich können Roboter in der Zukunft Menschen dabei helfen, ein wenig länger bei diesem Hobby zu bleiben und die Probleme der sozialen Ängste zu überwinden, mit denen sie anfangs vielleicht konfrontiert sind. Eventuell können sie uns dabei helfen, unsere Communitys auf eine gesündere Weise zu erweitern.
Der Weg ist das Ziel
Um jedoch auf die Frage zurückzukommen. Der menschliche Tänzer ist fehleranfällig… er kann einen guten oder schlechten Tag haben… er kann die Musik gut oder schlecht kennen… kurz gesagt… er ist nicht zuverlässig. Der Roboter hingegen ist 100% zuverlässig. Er wird niemals müde, er kennt die Musik, er wird nicht durch frühere Erfahrungen beeinflusst, also kann er keinen schlechten Tag haben, etc…. ganz zu schweigen davon, dass der Roboter dir gehören könnte! Würdest du mit einem Roboter tanzen, wenn du all das berücksichtigst? Würdest du lieber mit einem Roboter als mit einem menschlichen Tänzer tanzen?… und die noch wichtigere Frage ist… Warum?
Allein über die Antwort nachzudenken, ist meiner Meinung nach eine sehr interessante Reise. Sie kann uns Aufschluss darüber geben, was wir an diesem Tanz schätzen. Die Antwort wird natürlich nicht für jeden dieselbe sein, und vielleicht werden die Menschen am Ende ihre Meinung ändern und umdenken, wenn diese technologischen Anwendungsmöglichkeiten Realität werden. Aber der Weg zur Antwort oder besser noch der Weg zwischen den verschiedenen Antworten, die eine Person in Zukunft geben könnte, ist das Wichtigste.
Der heutige Goodnight Tango
Ich werde dir keine Antwort geben, denn ich stehe noch am Anfang dieser Reise. Wie ich schon sagte, gibt es nicht die eine Antwort… nicht einmal für ein und dieselbe Person. Es gibt nur eine einzigartige Reise zu den verschiedenen Antworten, die jeder von uns unternehmen sollte, mit dem eigenen Herzen als Kompass… als Wegweiser, wie der Titel des heutigen Goodnight Tango sagt.
Wenn du bis hierher gelesen hast… Dankesehr und Glückwunsch! Du bist am Ende angelangt! Aber dies ist auch der Anfang unserer Diskussionen. Wenn du zustimmst, nicht zustimmst, etwas hinzufügen, etwas korrigieren oder allgemein etwas sagen möchtest, dann zögere nicht, einen Kommentar abzugeben und/oder ihn mit deinen Freunden zu teilen. Du kannst deine Kommentare über das Formular unten auf der Facebook-Seite des Blogs oder sogar per E-Mail an mich persönlich senden.
Tango ist, wenn man die Freiheit hat zu tanzen mit wem man will.
Kleine Kompromisse muss man als soziales Wesen im Umgang mit der Gesellschaft oft im Alltag eingehen. Aber es gibt Bereiche des Lebens, da sollte man besser keine Abstriche machen. Zum Beispiel bei der Wahl des Lebenspartners:
Wenn man in der Liebe entgegen seiner tatsächlichen Präferenzen aus rein pragmatischen Erwägungen eine Zweckverbindung eingeht (z.B. Vernunftehe wegen finanzieller Sicherheit), dann leugnet man seine wahren Bedürfnisse. Unweigerlich quält das die eigene Seele, egal wie sehr man versucht, seine Wahl vor sich selbst oder vor anderen zu legitimieren. Meist mündet das in Überkompensation und Propaganda („Seht her, ich habe alles richtig gemacht!“) Spätestens, wenn man sich jeden Abend zur angeblich „richtigen Wahl“ ins Bett legt, weiß man im Inneren genau, dass man an seinen wahren Träumen Lichtjahre vorbei lebt. Die Sehnsucht nach Wärme und Leidenschaft bleibt in solchen Konstellationen oft auf der Strecke. Das Ergebnis: Frust.
Im Tango ist es nicht anders als in der Liebe. Wenn man sich auf eine Tanda mit jemandem — aus welchen Gründen auch immer — einlässt, mit dem man in Wahrheit gar nicht tanzen will, zählt man die Minuten oder denkt an den morgigen Supermarkteinkauf, um die Zeit irgendwie totzuschlagen. Es quält einen und man ist froh, wenn die Tanda endlich vorbei ist.
Im Gegensatz zur Partnerwahl in der Liebe, die einen unter Umständen jahrelang oder im worst case sogar ein Leben lang begleitet, ist die falsche Wahl im Tango allerdings nicht allzu verheerend. Die Tanda ist schließlich nach ein paar Minuten wieder vorbei. Auch vom falschen Kurspartner kann man sich nach einer Testphase wieder lösen und seine Suche nach dem „perfekten Partner“ fortsetzen. Aber dennoch ist die Verbindung ab dem Zeitpunkt der Erkenntnis irgendwie belastend.
Sitzende Tangueras
Um auch bei wichtigen Lebensentscheidungen die nötige Zuversicht aufzubringen, „Nein“ zu jemandem zu sagen oder umgekehrt nur dann „Ja“ zu sagen wo man es tatsächlich empfindet, ermutige ich andere Tangueras zu mehr Mut und Stolz. Leider folgen viele von ihnen wahllos und inflationär jeder Einladung, etwa aus Angst sitzen zu bleiben. Das Vorgehen ist nicht nur bedauernswert, da es von einem Mangel an Freiheitsgefühl und Selbstvertrauen zeugt. Nicht zuletzt verderben sie auch die „Preise“ zulasten aller Tänzerinnen.
Mit diesem Missstand sollte zum Vorteil aller Tänzerinnen und Tänzer aufgeräumt werden. Denn ist es nicht sehr viel schöner, mit dem richtigen Menschen zusammen zu sein….?
Vom 4. bis zum 7. Mai 2023 ließ ich erneut meine Liebsten daheim zurück und stürzte mich in ein weiteres Tango-Abenteuer. Es ging nach Lyon, der drittgrößten Stadt Frankreichs. Nur ein Familienmitglied begleitete mich, mit welchem ich im Anschluss nach Paris weiterzureisen plante. Mit Tango oder dem Event hatte es nichts Hut, sondern nutze die Zeit für Sightseeing. Bad-Ems saß mir zwar noch in den Knochen, aber das hinderte mich nicht. Die Anreise erfolgte über Strasbourg mit dem TGV. Ich liebe den französischen Schnellzug! Er schwebt immer so schön ruhig durch die Landschaft – wie ein fliegender Teppich. Eines muss man den Franzosen lassen, die können Schienenverkehr! Gerne würde ich das auch über den französischen Tango behaupten. Da ist leider nämlich durchaus Luft nach oben.
Wo soll ich anfangen? Ich denke, ich war einfach neugierig, wie die Franzosen im Tango ticken. Also entschied ich mich, das Festival in Lyon zu besuchen und buchte einige Workshops bei Joe Corbata/Lucila Cionci, Ariadna Naveira/Fernando Sanchez und Roxana Suarez/Sebastián Achaval sowie Milongas für alle Abende. Mit den Workshops wollte ich nicht übertreiben. Diese wählte ich gezielt nach den Themen, die mich interessierten und nicht etwa nach Bekanntheitsgrad der Gastlehrer. Mit den „Stars“ der Szene kenne ich mich ohnehin kaum aus und mit Personenkult habe ich es generell nicht so.
Die einzelnen Veranstaltungsorte, zwei Tanzschulen sowie eine Halle, in der die Milongas veranstaltet wurden, befanden sich nicht nur nicht am selben Ort, sondern lagen in der weitläufig angelegten Großstadt stark verstreut. Das hielt mich jedoch nicht von der Teilnahme ab. Mein Motto lautete: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Optimistisch buchte ich mir also im Vorfeld ein Hotel, das inmitten der drei Adressen lag, nämlich in Perrache-Charlemagne zwischen den Flüssen Rhône und Saône. Taktisch erwies sich die Lage meines Hotels doch nicht als die beste Wahl, aber das konnte ich zu dem Zeitpunkt nicht ahnen. Die Hotelempfehlungen der Veranstalter wurden erst später auf der Website veröffentlicht und hätten für Tangotouristen, die ohne eigenes Auto anreisten, eindringlicher und als alternativlos erfolgen können und müssen, aber dazu komme ich später.
Tag 1: Auf dem Weg zu meinem ersten Workshop nahm ich die Metro. Soweit – so gut. Ziel war 1 Ancienne Route d’Heyrieux in 69200 Vénissieux. An der Adresse eingetroffen, war dort wo sich das Gebäude befinden sollte, eine *räusper* beachtliche Baugrube! Da fühlte ich mich schon irgendwie veräppelt. Auch andere Teilnehmer irrten mit Smartphone in der Hand ratlos in der Gegend umher. Ich schloss mich mit einer von ihnen, einer Lyonerin, kurz. Die eigentliche Tanzschule befand sich, wie sich kurze Zeit später herausstellte, letztendlich nur eine Straße weiter. Mein Fehler, ich hätte vielleicht eine Kristallkugel oder Wünschelrute einpacken sollen, anstatt mich auf Google Maps zu verlassen.
Der folgende Unterricht bei Lucila und Joe war an sich super. Eine sehr lehrreiche Lektion über Voleos, die ich mit einer führenden Dame aus Paris absolvierte. Dank Lucila habe ich erstmals begriffen, dass ich den Voleo einfach nur zulassen muss. Bis dahin hatte ich ihn, vermutlich aus Angst vor Verletzungen, immer leicht ausgebremst. Seither weiß ich, woran ich ihn arbeiten muss. Anschließend sollte es zur Milonga gehen. Meine Tanzpartnerin begleitete mich. Zu zweit ist es sicherer und man kann sich unterhalten. Bei dieser Gelegenheit bekam ich ein paar Erfahrungsberichte über Tango in Frankreich und Paris und erzählte umgekehrt vom Tango in Deutschland und Griechenland. Zeit zum Plaudern hatten wir zu genüge, denn um zur Salle de la Garenne in 60 avenue Général Eisenhower zu gelangen, mussten wir Metro und Bus kombinieren und anschließend noch ca. 10 Gehminuten eine steile Straße aufwärts marschieren. Die Luftlinie betrug insgesamt gute 10 Kilometer. Mit Lauf- und Wartezeiten waren wir summa summarum über eine Stunde unterwegs.
Nach so einem langen Anreisetag plus anspruchsvollem Workshop fühlte ich mich abends schon ganz schön aufgeraucht. Die Milonga war dann trotzdem ganz ok. Indira Hiayes und Rodrigo Palacios performten beeindruckend. Allerdings verspätete sich die Lieferung der angekündigten Snacks und in der Nachbarschaft gab es nichts zu essen. Mir knurrte der Magen.
Gegen 1 Uhr war ich hundemüde, was nicht verwunderlich war, denn ich war seit früh morgens auf den Beinen war. Also googelte ich mit dem Smartphone nach einem lokalen Taxiunternehmen. Zu meiner Verblüffung fand ich nicht viele Anbieter, welche normale Fahrten unternahmen. An einer überteuerten Limousinenfahrt zum Flughafen war ich zumindest nicht besonders interessiert. Also blieb mir nur ein einziges lokales Taxiunternehmen zur Auswahl. Ein mürrischer Mann sicherte mir telefonisch die Abholung in 20 min. zu. Also wartete ich brav an der Zufahrt zur Straße. Doch niemand kam. Als ich erneut in der Zentrale anrief, bekam ich von einer Dame nur zu hören, dass im Moment leider kein Taxi verfügbar sei. Klasse… Es wurden von den Veranstaltern zwar privat Shuttles organisiert, die regelmäßig zwischen der Milonga und den beiden empfohlenen Hotels pendeln sollten, aber die starteten erst ab 2:20 Uhr und diese Gegend anzufahren, brachte mich meinem Hotel kein bisschen näher. Der Fußweg von der Milonga zu meinem Hotel betrug über 1 Stunde, die ich nachts nicht laufen wollte und schon gar nicht unbegleitet. Ich ging also erstmal wieder in die Halle zurück, um den Helfern am Empfang mein Problem zu schildern und sie um Rat zu bitten. Man reagierte etwas verdutzt über mein frühes Aufbrechen, gab sich aber freundlich und problemlösungsorientiert. Na ja, es blieb bei der wohlwollend gemeinten Ankündigung, mir helfen zu wollen. Eine konkrete und zufriedenstellende Lösung bot man mir trotz mehrmaligem Nachhaken jedoch nicht an und wandte sich stattdessen anderen Aufgaben zu. Ein Mann mit gedrungener Gestalt und dem Charme eines Disco-Türstehers bewegte sich hektisch-gestresst zwischen der Halle und dem Wendehammer vor der Halle hin und her. Gut möglich, dass er der (Mit-)Verantwortliche des Festivals war. Zumindest war er am Programm beteiligt. Falls er Mit- oder gar Hauptverantwortlicher war, legte er nach meiner Beobachtung keinen allzu großen Wert darauf, sich als Gastgeber zu erkennen zu geben. In seiner Hektik war der Mann jedenfalls nur schwer abzupassen, aber schließlich gelang es mir und so schilderte ich auch ihm mein Problem. Er faselte etwas davon, eine Lösung zu finden. Angeblich käme ein Freund mit einem Transporter zur Location, welcher sich aber derzeit noch am Flughafen befand. Ob und wann dieser mich zum Hotel bringen würde, blieb jedoch unklar. Diesbezüglich kamen weder er noch sonst irgendjemand auf mich zu, während ich sichtbar im Foyer wartete. Irgendwie schienen viele Mitglieder des Orgateams unter Amnesie zu leiden.
Ein nettes deutsches Paar aus Karlsruhe hatte beim Bestellen eines Taxis derselben Zentrale etwas mehr Glück. Sie boten mir an, das Taxi im Anschluss an ihre Fahrt zu übernehmen. Das Taxi verspätete sich, aber immerhin kam diesmal tatsächlich ein Fahrer in einem weißen E-Auto angeschlichen. Von denen gibt es in Lyon viele. Der junge Mann war mein Retter in der Not und bekam zum Abschied ein großzügiges Trinkgeld von mir. Nach dem Stress fiel ich erstmal tot ins Bett.
Tag 2: Am nächsten Tag ging es am frühen Abend zu einem weiteren Workshop von Lucila und Joe zum Thema Rhythmuswechsel in den Giros beim Vals. Die Adresse führte mich zu “Infinity Dance” in 6 pass du béal in 69009 Vaise, also an einer komplett anderen Adresse als am Vortag. Diesmal stieß ich zwar nicht auf eine Baugrube, aber dafür landete ich – trotz korrekter Adresse – in einem Privathaus. Zumindest wirkte das Gebäude innen so. Der Eingang war nicht verriegelt. Also betrat ich das Haus und ging zögerlich eine alte Holztreppe hinauf. Keine Musik. Kein Gerede. Nein, hier musste ich falsch sein. Eine junge Frau, die mir die Treppe entgegen stürmte, bestätigte meinen Verdacht und zeigte mir den Weg zur Tanzschule, nachdem ich ihr den Grund meiner Störung erklärt hatte. Das Studio befand sich letztendlich nicht weit entfernt, nämlich hinter demselben Gebäudekomplex. Auf der Straße war von Musik jedoch nichts zu hören. Gut, man soll ja etwas nachsichtig und flexibel sein, aber für eine Schnitzeljagd hatte ich mich eigentlich nicht angemeldet.
Wie zu allen Workshops hatte ich mich ohne Tanzpartner angemeldet. Ein junger Gasttänzer bot sich als Partner an. Anfangs war er freundlich. Seine Muttersprache sei Spanisch, aber er wirkte eher so, als stammte er aus dem arabischen Raum. Die genaue Herkunft ist mir eigentlich egal. Das Verhalten eines Menschen hingegen nicht. Mit seinem Hinweis, er helfe in dieser Schule selbst als Lehrer aus, setzte mein Tanzpartner schon zu Beginn ein klares Signal bezüglich unserer vermeintlich divergierenden Tanzniveaus und nörgelte im weiteren Verlauf ständig an mir herum, während ich über seine Defizite tolerant und harmonieorientiert hinwegsah. Denn trotz erneuter Probleme, das Studio zu finden, konnte ich innerlich zügig auf Tangomodus umschalten. Tango ist meine Leidenschaft. Da bin ich eigentlich immer zufrieden und gut gelaunt. Klar interessiert mich auch grundsätzlich das Feedback meiner Tanzpartner und höre mir grundsätzlich jede Kritik aufmerksam an. Das bedeutet jedoch nicht, dass ich unreflektiert über jedes Stöckchen hüpfe, das man(n) mir hinhält. Ich tanze nicht erst seit gestern, kenne mich inzwischen selbst ganz gut und weiß dank kompetenter Maestros wo meine technischen Schwächen und auch meine Stärken im Tango liegen. Manche Tangotänzer erwarten jedoch blinde und bedingungslose Unterwerfung ihrer ‚Lehren‘. Aber hier war ich lediglich einverstanden, mit dem jungen Mann den Workshop zu absolvieren. Als Schülerin und Schüler. An seiner Expertise war ich insofern nicht sehr interessiert, zumal mir diese nicht bekannt war und ich in diesem Studio keine Wurzeln schlagen wollte. Jeder kann im Grunde unterrichten und sich Tangolehrer nennen. Das macht noch lange keinen Meister. Von der Kompetenz der beiden Kursleiter war ich seit dem Vortag überzeugt. Insofern benötigte ich niemanden, der sich als Instanz dazwischenschaltet und mich ungefragt und in anmaßendem Ton unterunterrichtet. Dieses Phänomen beobachte ich öfter im Tango. Es ist schade, wenn Leute an einem gemeinsamen Lernen auf Augenhöhe ex tunc nicht interessiert sind und stattdessen lieber ihre privaten oder beruflichen Probleme auf dem Parkett kompensieren. Nach neunzig Minuten verabschiedete ich mich schmerzlos.
Auch an diesem Abend besuchte ich die Milonga. Ich hatte beim Stylen etwas zu sehr getrödelt, sodass ich die Straßenbahn nicht mehr erwischte. Die hatte schon Feierabend. Also lief ich weiter und passierte den Bahnhof Perrache in einem Milongakleid aus Satin, was ich übrigens nicht weiterempfehlen würde. Denn in der Bahnhofsunterführung zog ich schnurstracks vorbei an Olalas, Salut-Madames und ähnliche Anmachen, was mir Unbehagen bereitete. Leider befand sich die Bushaltestelle, von der aus ich in Richtung Milonga fahren könnte, auf der anderen Seite des Bahnhofs. Aber ich erwischte den letzten Bus und traf etwas spät aber unversehrt an der Location ein. Diese war an sich super. Ich habe nette Leute kennengelernt, mein Französisch aufgefrischt und viele schöne Tandas getanzt. Neben Octavio Fernandez und Corina Herrera performten auch Roxana Suarez und Sebastián Achaval an diesem Abend. Was den Unterhaltungsfaktor anging, hatte ich also keinen Grund zu klagen. Und für die Heimfahrt hatte ich diesmal auch vorgesorgt. Das dachte ich zumindest.
Bereits am Morgen hatte ich mir extra ein Konto bei einer bekannten Vermittlungs-App für Fahrteneingerichtet und einen Fahrer für 2 Uhr nachts bestellt. Das war relativ früh, denn auf Festivals feiert man bis in die frühen Morgenstunden. Während ich pünktlich am Treffpunkt wartete, stornierte mein Fahrer „Pierre“ kurzerhand die Fahrt. Offenbar war dieser nicht einmal in der Stadt. Ich Glückspils… Um mich nicht wieder sinn- und ergebnislos mit den Helfern des Festivals auseinanderzusetzen, dachte ich kurz darüber nach, den weiten Weg zu Fuß anzutreten. Als plötzlich ein männlicher Milongagast mit zwei Damen im Schlepptau auftauchte und mich fragte, ob ich auf einTaxi wartete. Ich schilderte ihm, dass mein Fahrer mir gerade abgesagt hatte. Daraufhin bot er mir an, mich mitzunehmen. Ich nahm sein Angebot dankend an und entschuldigte mich bei allen für die Umstände. Die Fahrt war ein Traum! Alle drei waren sehr freundlich und auch aufrichtig an einem Austausch interessiert. Bessere Gesellschaft hätte ich mir kaum wünschen können. Mein Glaube an die französische Eleganz wurde ausgerechnet in diesem kleinen und betagten Dreitürer mit Verbrenner wiederhergestellt.
Nachdem der nette Herr die beiden Damen abgesetzt hatte, brachte er mich auch mich zu meinem Hotel. Trotz des Umwegs, nahm er kein Benzingeld von mir an. Er stimmte jedoch zu, sich von mir auf einen Drink einladen zu lassen, falls wir uns auf der nächsten Milonga wiedersehen würde. Aber das ergab sich nicht. Sein Name war übrigens Pierre, genauso wie der unzuverlässige Fahrer der Vermittlungs-App, der mich versetzt hatte. Dieser Pierre war jedoch definitiv ein Ritter.
Tag 3: Gleicher Ort – andere Lehrer. Für diesen Tag hatte ich zwei Workshops bei Roxana Suarez und Sebastián Achaval gebucht. Obwohl ich wie zuvor auch immer schon bei der Anmeldung daraufhin wies, dass ich einen Tanzpartner benötige, verbrachte ich die ersten fünf Minuten als Zuschauer auf der Bank. Richtig gelesen. Offenbar blieb dies nicht unbemerkt. Denn schon kurz darauf eilte eine junge Französin zu mir und bot mir an, den Workshop mit mir zu machen. Sie entschuldigte sich mehrmals, dass sie keine ausreichende Erfahrung im Führen hatte. Aber besser tanzte ich mit einem unerfahrenen Führenden als gar nicht, dachte ich mir. Schließlich hatte ich für den Workshop gezahlt und einen weiten Weg durch die Stadt hinter mir. Die hübsche Tänzerin gab sich Mühe und führte den Giro sogar besser als so mancher „echter“ Führender. Insofern war es für mich völlig in Ordnung. Ich bat die Lehrerin Roxana um ihr Feedback. Sie hatte ein motivierendes und positives Wesen und nahm sich überraschend viel Zeit mit mir. Ein echter Vollprofi. Auch Sebastián gab mir später ein paar ergänzende wertvolle Tipps, sodass ich nach anfänglichen Hürden aus dieser Unterrichtseinheit doch noch manches mitnehmen konnte.
Für den nachfolgenden Workshop kümmerte ich mich um einen Partner mit mehr Führungserfahrung. Bruno war schnell gefunden. Er war mittleren Alters und ein hervorragender Tänzer. Leider wusste er das auch und war insofern nur schwer zufrieden zu stellen. Das Thema „Lapices und Planeos“ war für mich relativ neu, aber ich freute mich schon im Vorfeld riesig darauf! Es erwies sich als eine spannende Herausforderung. Insbesondere den „Drehmoment“ im Planeo zu erkennen und zuzulassen, fiel mir anfangs schwer. Aber am Ende des Unterrichts fühlte ich mich dank der Anleitung der Lehrer und der Geduld und der soliden Führung meines Tanzpartners so sicher, dass ich Lust bekam ein wenig herumzuspielen und Voleos und Verzierungen einbaute. Planeos – ich möchte in Zukunft unbedingt tiefer in diesen Kosmos eintauchen….
Für den Samstagabend war das Orchester El Cachivache angekündigt. Im Vorfeld hatte ich Auftritte von den Jungs gegoogelt, aber live sind die noch viiiel besser. Mensch, haben die den Tango gerockt! Die gehören echt verboten. :–) Die Tanzfläche war voll und die Halle bebte. Lucila Cionci und Joe Corbata sowie Ariadna Naveira und Fernando Sanchez performten zunächsten jeweils als Paar und anschließend zusammen in einer Art Ménage-à-quatre:
Bei Live-Musik bin ich meist etwas ratlos, wie ich zur Musik tanzen soll, aber diesmal ließ ich mich einfach nur treiben. Ich genoss sinnliche und spaßige Begegnungen mit wunderbaren Tänzern. Und plötzlich war er da. Dieser eine Mann, mit dem ich schon den ganzen Abend erfolglos Blickkontakt herstellen wollte, bemerkte mich schließlich doch forderte mich zum Tanzen auf. Natürlich folgte ich seiner Einladung. Er war kein typischer Schönling und auch nicht groß, hatte aber eine unglaublich männliche und kraftvolle Aura und meeresblaue Augen. Er trug ein helles Fischernetz um den Kopf. Wie er mir erzählte, stammte er aus der Bretagne und war sichtlich stolz auf seine Herkunft. An seinen ungewöhnlichen Namen erinnere ich mich leider nicht. Aber an diese Tanda werde ich mich immer erinnern. In den Armen dieses Tango-Piraten war ich einfach nur eins mit der Musik.
Aber auch der schönste Abend geht irgendwann zu Ende und gegen 3 Uhr entschloss ich mich, die Milonga zu verlassen und zum Hotel zurückzukehren. Ich griff zum Handy und versuchte es erneut bei dem örtlichen Taxiunternehmen. Wieder Pech. Alle Taxis seien im Einsatz, vertröstete mich die Dame am Telefon. Wie kann das sein, dass man in einer europäischen Großstadt kein Taxi bekommt? Hadern nützte mir nichts. Ich hatte nicht die Nerven, mich mit ignoranten Organisatoren oder Helfern zu plagen. Auch war ich zu stolz, um Fremde anzuhauen mich mitzunehmen. Also brach ich auf, um den Heimweg zu Fuß zu wagen.
In der linken Hand hatte ich mein Handy für die Navigation und meine rechte parkte ich in meiner Jackentasche mit Reizgas in der Faust und dem Zeigefinger stets auf dem Auslöser. Die erste halbe Stunde war noch ok. Alles Wohngebiet und meist gut beleuchtete Straßen. Aber ab der Montée des Génovéfains wurde es echt ungemütlich. Nur noch kleine dunkle Gassen und eine schwer einsehbare, verwinkelte Treppe. An der Pont Kitchener-Marchand eingetroffen, konnte ich kurz durchatmen. Das dachte ich zumindest, denn plötzlich lieferten sich ein paar Spinner ein lautstarkes Autorennen auf der Brücke. Am Ende der Brücke fand ich mich vor dem Bahnhofgebäude wieder. Nachts erschien es mir wie eine monströse, unförmige und unüberwindbare Festung aus Beton und Metall. Bis heute bin ich mir nicht sicher, welche Seite des Bahnhofs Vorder- bzw. Rückseite ist. Es war inzwischen fast 4 Uhr. Bei dem Gedanken, zu dieser Zeit die Unterführung zu passieren, bekam ich – gelinde gesagt Respekt. Bahnhofsgegenden sind bekanntlich Kriminalitäts-Brennpunkte und die Männercliquen mit ihren dummen Anmachen auf dem Hinweg waren mir noch gut in schlechter Erinnerung. Aber irgendwie musste ich auf die andere Seite dieses Bahnhofs gelangen, denn dort lag mein Hotel. Dank meines Fachwissens in Kriminologie hatte ich mich bis dato durch die Straßen und Gassen zu bewegen gewusst, ohne mich zur potenziellen Zielscheibe zu machen. Ich bewegte mich ohne Unterlass souverän, zielorientiert und ortskundig, selbst dann, wenn ich völlig unsicher und planlos war. Nur in unbeobachteten Momenten schaute ich kurz auf mein Handy, welches ich zuvor bewusst auf leise gestellt hatte. Ich wollte möglichen Beobachtern auf keinen Fall orientierungslos erscheinen.
Aber nun, am Gare de Perrache eingetroffen, war ich tatsächlich etwas ratlos und studierte die Karte von Google Maps ein wenig genauer, um eine alternative Route zu finden, die mir diese lange und düstere Unterführung ersparen würde. Kaum steht man kurz still, wird man schon angequatscht. Ein Mann wollte wissen wo der Bahnhof zu finden sei. Dabei standen wir direkt davor. Offenbar ging es ihm primär tatsächlich nur um den Weg. Nichtsdestotrotz ist es unangebracht, nachts einsame Damen anzusprechen. Auch wenn derjenige keine schlechten Absichten hegt. Damit erzeugt man automatisch Anspannung. Insofern muss das nicht sein. Bei helllichtem Tag ist das etwas völlig anderes. Wie dem auch sei, er fand keinen Zugang zum Gebäudekomplex. Willkommen im Club! Nachts ist der Laden dicht und von dieser Seite schien es keinen Zugang zu geben. Nachdem das geklärt war, ging ich weiter und entschied ich mich zunächst, den Bahnhof nicht zu passieren und stattdessen vor dem Komplex entlang zu gehen und über einen extralangen Umweg über die Pont Gallieni und Pont Pasteur von Süden sicher die Insel entlang zu meinem Hotel zu gelangen, wobei ich mir nicht ganz sicher war, ob die Pont Pasteur überhaupt wegeläufig passierbar war.
Aber soweit kam ich gar nicht, denn auf dem Weg zur Pont Gallieni musste ich die dunkle Parkanlage am Place Carnot durchqueren. Da ich so wenig wie möglich mein Smartphone um Rat fragen wollte, war mir die Größe des Parks nicht bekannt, sonst hätte ich ihn vermutlich umrundet. Dort wollte ein Typ zum Glück nur eine Zigarette von mir schnorren und war enttäuscht, dass ich nicht rauchte. Ich ging entschlossen weiter und machte einen Bogen um die hörbaren „Parkbewohner“. Mich überkamen Zweifel, ob der Park im Vergleich zu der Unterführung das geringere Übel war. Allerdings hätte ich im Tunnel nur zwei Richtungen als mögliche Fluchtwege und im Park theoretisch mehr. Als ich die Pont Gallieni betrat, registrierte ich eine sehr laute Konfliktsituation mitten auf der Brücke, an der mehrere Leute beteiligt waren. Möglicherweise waren Alkohol oder Drogen im Spiel. Auf keinen Fall wollte ich da zwischen die Fronten geraten, also kehrte ich um und entschied mich, die Unterführung nun doch zu nehmen.
Also passierte ich erneut den Park. Ich unternahm einen letzten Versuch, in das Bahnhofsgebäude zu gelangen, um es von innen zu passieren. Aber der einzige Zugang, den ich fand, war verriegelt. Ich umklammerte weiterhin mein Spray mit der rechten Hand und begab mich zur Unterführung. Ich fühlte mich ein bisschen wie Indiana Jones in „Indiana Jones und der letzte Kreuzzug“ und zwar in der Szene, in der er den legendären Sprung des Glaubens wagte. Ich war mir nicht sicher, ob ich die Unterführung und die Straße, in die sie mündete, wohlbehalten passieren würde. Aber mir blieben nicht viele Handlungsoptionen. Mit einem kurzen Stoßgebet und viel Gottvertrauen ab durch die Mitte! Ironischerweise begegneten mir keine problematischen Gestalten und ich passierte den Bahnhof unbehelligt. Keine unerwünschten Interaktionen. Nur ein paar betrunkene Jugendliche kreuzten meinen Weg. Die waren aber nur mit sich selbst beschäftigt und ignorierten mich. Gut so. Inzwischen war es schon halb 5 Uhr morgens. Irgendwann gehen wohl selbst Rumtreiber und Kriminelle ins Bett. Auf der anderen Seite des Bahnhofs angelangt, war ich einfach nur heilfroh. Die letzten Meter auf der Cours Charlemagne tänzelte ich erleichtert zu meinem Hotel. Ich war glücklich, aber gleichzeitig auch tot. Meine Begleitung schlief seelenruhig und bemerkte zum Glück nichts von meiner Not und den Ängsten, die ich ausgestanden hatte. Ich mag es nicht, meinen Leuten Sorge zu bereiten.
Tag 4: Am letzten Tag, nachdem ich komatös geschlafen und mich ein wenig von meinem Trauma erholt hatte, besuchte ich am Nachmittag zwei Workshops bei Ariadna Naveira und Fernando Sancheza. Für den ersten Workshop bot sich ein französischer Gasttänzer aus dem Team als Partner an, der sehr einfühlsam und geduldig war. Zum zweiten Workshop wurde ich an einen Gast vermittelt, der leider nicht über die erforderlichen Kenntnisse für diesen Kurs verfügte bzw. große Schwierigkeiten hatte, sich die gestellte Aufgabe und die Bewegungsabläufe zu merken. Was ihm an Erfahrung und Kompetenz fehlte, kompensierte er mit Redseeligkeit. Ich nutzte daher so oft wie möglich die Gelegenheit, die beiden Lehrer zu fragen, um das Thema halbwegs zu begreifen und das Beste für mich herauszuschlagen. Schließlich besuchte ich den Unterricht, um mich im Tango weiterzuentwickeln. Besonders Ariadna war nicht nur selbst ein Hingucker bei ihrer Performance, sondern eine hervorragende Analytikerin, die die Baustellen eines Tänzers sehr schnell erfasst und an den richtigen Schrauben dreht. Ein Hinweis von ihr hat meinen Tanz besonders nachhaltig geprägt. Dafür werde ich ihr immer dankbar sein.
Zur Milonga zog es mich an diesem Abend kein bisschen. Die schlechten Erfahrungen und meine gepeinigten Füße hatten mich endgültig davon kuriert. Stattdessen bereitete ich mich gemeinsam mit meiner Begleitung auf meine Weiterreise nach Paris vor. Erst im TGV nach Paris redete ich mir meine Traumata von der Seele und erholte mich langsam von den Strapazen.
Fazit: Das Fazit kann man sich im Grunde von der Festival-Website unschwer ableiten. Dort heißt es übersetzt, sie hätten das Festival vor 6 Jahren ins Leben gerufen und mit jedem Mal kämen sie dem Festival näher, von dem sie träumten.
Damit gestehen sich die Organisatoren ein, noch weit von der Perfektion entfernt zu sein. Aber nicht aus den Gründen, die sie selbst wohl vermuten. Das wesentliche Problem liegt nämlich spürbar in ihrer Einstellung. Sie scheinen einfach viel zu sehr damit beschäftigt zu sein, sich selbst zu feiern und bildgebend zu promoten, anstatt auf die Bedürfnisse der Gäste einzugehen. Als seien diese nur Dekoration oder zweite Klasse. In den sozialen Medien präsentiert man das Event anschließend als großen Erfolg. Aber da redet man sich künstlich etwas herbei, was hinter den Kulissen so glänzend und gelungen nicht immer war. Denn ob es gelungen war oder nicht, darüber urteilen weniger die Veranstalter, sondern vielmehr die Gäste. Und ich als Gast habe eher gemischte Gefühle und große Vorbehalte, wenn ich mich an Lyon erinnere. Insofern kann ich den „Erfolg“ guten Gewissens so nicht mitunterschreiben. Nicht nur mir erging es so. Selbst Einheimische, mit denen ich mich unterhielt, waren über die Lage der Veranstaltungsorte und die Verkehrsmittel nicht gerade begeistert. Klar gab es auch einige gute Momente. Unten habe ich ein Video von einer beeindruckenden Tangoshow von vier Profitänzern eingebettet, die mir allesamt als Lehrer eine Inspiration waren. Dass man jedoch Festival-Teilnehmer bei der Suche nach den korrekten Kursorten eine Schnitzeljagd zumutet und im Vorfeld mit keinem Wort auf die vertrackten Bedingungen hinweist, schmälert nicht nur das Vertrauen, sondern spricht für eine schlechte Planung. Im Resultat bekommt man als Tango-Tourist den Eindruck, dass man im Grunde keine Ortsfremden und Ausländer dort haben will. Sonst würde man ihnen nicht diesen abgelegenen Veranstaltungsort für die Milongas zumuten, von denen man abends oder nachts nicht oder nicht sicher heimkehrt. Zudem gibt es keine aufrichtig interessierten Ansprechpartner für Probleme und die Problemlösungskompetenz der Helfer geht nahezu gegen null. Sehr zulasten des Gastes. Ich persönlich war jedenfalls sehr gestresst durch den Umstand, jeden Abend nicht zu wissen, ob oder wie ich nach der Milonga zurück zum Hotel komme und war letztendlich gezwungen, mich einem traumatisierenden Worstcase-Szenario auszusetzen, nachts allein und gequält durch die Straßen dieser fremden Großstadt zu laufen und mich damit in nicht unerhebliche Gefahr zu begeben.
Ohne eigenes Fahrzeug oder zuverlässige Freunde in der Stadt sollte man das Festival nicht besuchen. Wenn man obendrein kein Französisch spricht, wird man es in der Stadt unweigerlich sehr schwer haben. In Lyon sind die Franzosen nach meiner Erfahrung nicht so weltoffen wie etwa in Paris und die Willkommenskultur eher dürftig. Und Deutschen wird da ohnehin kein roter Teppich ausgerollt, um es diplomatisch zu formulieren.
Stargäste und gute Orchester reichen jedenfalls für das Gelingen alleine nicht aus. In Lyon ist man noch Lichtjahre von einem gelungenen Tangofestival entfernt. Wie der Titel also schon erahnen lässt: Kann man machen – muss man aber nicht.
Ende April 2023 verschlug es mich für drei Tage nach Bad Ems bei Koblenz. Meine Anfahrt war offen gestanden ein wenig traumatisch – drei Stunden Stau im Dauerregen -, aber der Stress hat sich definitiv gelohnt! Mit seinen historischen Gebäuden, der romantischen Flusspromenade und den schönen Gassen ist der Kurort nämlich geradezu ein Juwel inmitten der Natur.
Von dem Tango-Marathon, der dort bereits seit vielen Jahren stattfindet, hatte ich nur zufällig durch einen Bekannten erfahren. Im Gegensatz zu anderen Tango-Events, die über die sozialen Medien teilweise fast schon aggressiv beworben werden, scheint diese Veranstaltung keine lauten Werbetrommeln zu benötigen. Insofern ist dieser Beitrag weniger ein Veranstaltungstipp und auch keine detaillierte Rezension. Vielmehr möchte ich ein paar meiner persönlichen Eindrücke von einem denkwürdigen Wochenende mit euch teilen.
Wie bei den meisten meiner Tango-Abenteuer stürzte ich mich auch in dieses ohne Begleitung. Veranstaltungsort war das Staatsbad Bad Ems. Dort eingetroffen wurden die Gäste im Rahmen der Begrüßung im Foyer nicht etwa, wie man es von vielen Events mit kommerziellem Fokus gewohnt ist, randläufig wie eine Art „Nummer“ abgewickelt, sondern von der Gastgeberin, einer erfahrenen und etablierten Tangolehrerin aus dem Rhein-Main Gebiet, die ich bis dato lediglich von der Korrespondenz rund um die Veranstaltung kannte, sehr individuell, warmherzig und familiär empfangen. So verflogen meine Bedenken und meine Nervosität, die man unbegleitet auf „neuem Terrain“ unweigerlich entwickelt, im Nu und ich fühlte mich willkommen und gut aufgehoben.
Nichtsdestotrotz bleibt einem beim Betreten des Marmorsaals, in dem die Milongas stattfinden, zunächst einmal der Atem stehen. So erging es selbst Gästen, die im Gegensatz zu mir nicht zum ersten Mal da waren. Ein prunkvolles und imposantes Ambiente und – was natürlich wichtig ist – ein perfektes Parkett, um gemeinsam mit Gleichgesinnten den Tango Argentino zu feiern und in den Mai zu tanzen.
An den Abenden tanzte ich bis spät in die Nacht schöne Tandas zu geschmackvoll arrangierten klassischen Orchestern und tauschte mich mit netten Leuten aus ganz Europa aus. Tagsüber schlenderte ich – bei mittlerweile besserem Wetter – die Lahn entlang, besuchte an zwei Tagen die berühmte Emser Therme, um meine müden Beinen vor der nächsten Milonga ein wenig zu „tunen“ und die übrige Zeit kochte ich und entspannte mich in meinem kleinen Miet-Apartment, welches zum Glück nur wenige Gehminuten vom Veranstaltungsort entfernt war.