Faszination Tango-Community – Teil 3

La Ronda - AI-created

Tango-Community als Religionsgemeinschaft

Stellt man auf Zielsetzung und Konsens einer Gruppe ab, sind – auf den Tango angewandt – wir Tangotänzer und -begeisterte uns im kleinsten Nenner darin einig, dass dieser *Trommelwirbel* schlicht im Tango besteht. :–) Gemeint ist insbesondere das Teilen der Begeisterung, also das Tangotanzen sowie das Schaffen und Hören von Tangomusik. Tango wird von uns munter gefeiert und kultiviert. Arme und Reiche tanzen miteinander. Faschisten und Humanisten liegen sich in den Armen. Ebenso Akademiker, Arbeiter sowie Erwerbslose. Jeder mit jedem. In der Abrazo spielt das alles keine Rolle. Als entstünde in oder besser ausgedrückt mit der Umarmung eine neue Dimension. Dort angelangt, zählt nur das Gefühl an sich, das Gefühl, mit diesem anderen Menschen physisch und seelisch zu verschmelzen, selbst wenn es nur für 12 Minuten ist. Dieses tiefe Bedürfnis nach Zusammengehörigkeit geht weit über die profanen weltlichen Kategorien hinaus, über die sich die Menschen ansonsten gerne definieren oder zanken. Pure Gravitation….

Des Weiteren besteht gemeinhin Einigkeit darüber, dass Tango Argentino nicht allein im Verborgenen, sondern nur in einer Gemeinschaft adäquat und frei gelebt werden kann. Für sich allein kann man zwar Technik üben und perfektionieren, aber Tango tanzt man erst, wenn man ihn in einvernehmlicher(!) Umarmung gemeinsam tanzt.

Vorzugsweise möchten wir ihn zwar in Salons ausleben, die geradezu wie religiöse Tempel fungieren. In der Tangodimension fungieren sie ein bisschen als Kirchen, d.h. sowohl institutionell als auch physikalisch. Prächtige Räume und Säle mit Symbolcharakter laden den Betrachter regelrecht ein einzutreten und suggerieren ihm zugleich, dass Sinnerfüllung und Akzeptanz dort auf ihn wartet. Das ist an sich reizvoll. Und keine Sorge, natürlich rennt da niemand mit Weihrauch herum. Aber einen gewissen Kult in Form von Riten und Gepflogenheiten gibt es da durchaus. Und gepredigt wird auch munter und in jeder Ecke – vor allem viel Nonsens während der Tanzpausen. Das gehört zum guten Ton.

Die aufmerksamen Leser unter Euch ahnen vielleicht schon, worauf ich hinaus will. Am ehesten lässt sich der Tango mit dem Christentum vergleichen. Das Christentum hat zwar nicht das Patent einer Definition von Gemeinschaft generell inne, aber bei der Definition einer Tango-Community samt ihren Kriterien durchaus und zwar vor folgendem Hintergrund:

Da Tango sich in christlichen Kulturkreisen entwickelt hat und diese Religion –neben dem griechisch-römischen Wertesystem des Humanismus – stark das gesellschaftliche und rechtliche Ordnung mitprägte und bis heute prägt, ist es nur legitim und folgerichtig, die Frage, ab wann eine Tango-Community als soche besteht und welche Kriterien sie auszeichnet, anhand christlicher Maßstäbe zu beurteilen und befriedigend zu klären. Dass der Tango in seinen Anfängen auch anderen kulturellen Einflüssen unterlag und heute in fast allen Kulturkreisen gelebt wird, soll durch die nachfolgenden Überlegungen keineswegs in Abrede gestellt werden. Hier geht es lediglich um die Frage nach der Natur und Organisation der Tango-Community. Und das Christentum ist ihrer Bezeichnung unstreitig inhärent:

Nenne mir ein Wort und ich beweise dir, dass sein Ursprung griechisch ist! :–)

Die frühen Christen definierten sich stark über die Vorstellung einer Gemeinschaft. Auch über größere Distanzen betrieben sie Networking, verbreiteten die Frohe Botschaft und die Geistlichen schrieben sich fleißig Briefe. Auch lange vor dem Computerzeitalter wurde munter gechattet, getwittert bzw. geXt, wenn man so will. (Was war eigentlich an „Twitter“ so falsch, Elon?) Der altgriechische Begriff „κοινωνία“, von dem der lateinische Wort cummonio sowie auch die englische community ableitet ist, enthält den Wortstamm „κοιν“, der soviel bedeutet wie „das, was man gemeinsam hat“.

Ausgangspunkt und zentrale Figur der christlichen Gemeinschaft ist, wenig überraschend, Jesus Christus und das Wort. Das Neue Testament bietet genau betrachtet drei Methoden um die christliche Gemeinschaft zu definieren:

  • Die „christliche Bedeutung“ bezieht sich auf Jesus Christus, beruft zur Geschwisterlichkeit mit dem Sohn Gottes ein, seinem Leib und Blut sowie die Anteilnahme an seinem Leid usw.
  • Die „pneumatologische Bedeutung“ konzentriert sich auf den Heiligen Geist. Die Gläubigen haben Anteil an der Natur Gottes, an der Gemeinschaft des Geistes usw.
  • Die „ekklesiologische Bedeutung“ definiert die Gemeinschaft mit der Kirche, also die Gemeinschaft der Gläubigen in Christus, die Brüder, die miteinander verschiedene Güter teilen, die gemeinschaftlichen Werke christlicher Solidarität, der Dienst des Apostels in den verschiedenen Gemeinden. Sie bildet die sozialen und rechtlichen Grundlagen für Zusammenleben der Gläubigen, für Hierarchie und Gesetzgebung.

Im Laufe der Zeit rückte die ekklesiologische Bedeutung in den Vordergrund. Insbesondere im Mittelalter.

Vergleichend auf den Tango angewandt, tritt Tango an die Stelle von Gott, Jesus und dem Heiligen Geist. Der Unterschied ist lediglich, dass hierbei kein vertikales Verhältnis besteht. Wir Tangogläubige warten insofern nicht auf Erlösung von oben, sondern erlösen uns in unserem Begehren quasi instanzlos gegenseitig, also in einem horizontalen Verhältnis. Gib mir deinen Tango – ich gebe dir meinen. Auf dem Parkett, wohlgemerkt. Es laufen unablässig Deals, wenn man es mal ganz nüchtern und unromantisch betrachtet.

Mindestzahl einer Community?

Um die Eingangsfrage zu klären, wieviele Tangotänzer es nun bedarf, um sich als Tango-Community zu qualifizieren und damit auch die Frage, ob nur zwei Menschen eine Milonga stemmen können, richtet sich in diesem Gedankenmodell schlicht danach, ab welcher Personenzahl von einer christlichen Gemeinschaft die Rede sein kann.

Unstreitig besteht sie aus mehr als nur einer Person. Aber fragen wir doch am besten mal Jesus selbst! Wenn wir sein Agieren und Reden im Neuen Testament als Referenz in die vorliegenden Überlegungen hinzuziehen, hat er seine göttliche Botschaft mit mehr als nur einem einzelnen Menschen geteilt, nämlich mit seinen zwölf Jüngern, denen er liebevoll-fürsorglich auf Augenhöhe begegnete. Laut Matthäus ist folgende Aussage Jesu überliefert, die eine hinreichend klare Antwort liefert:

„Πάλιν [ἀμὴν] λέγω ὑμῖν ὅτι ἐὰν δύο συμφωνήσωσιν ἐξ ὑμῶν ἐπὶ τῆς γῆς περὶ παντὸς πράγματος οὗ ἐὰν αἰτήσωνται, γενήσεται αὐτοῖς παρὰ τοῦ πατρός μου τοῦ ἐν οὐρανοῖς. 20οὗ γάρ εἰσιν δύο ἢ τρεῖς συνηγμένοι εἰς τὸ ἐμὸν ὄνομα, ἐκεῖ εἰμι ἐν μέσῳ αὐτῶν.“

Zu Deutsch: „Weiter sage ich euch, wenn zwei von euch auf Erden übereinkommen über irgendeine Sache, für die sie bitten wollen, so soll sie ihnen zuteilwerden von meinem Vater im Himmel. Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich in ihrer Mitte.“ – Matthäus 18:19-20

Die Sachlage ist glasklar. Es genügen folglich zwei Menschen, um eine Gemeinschaft im christlichen Sinne zu bilden.

Von einer physikalischen Kirche spricht Jesus übrigens nicht. Auf den Tango übertragen, kann dieser also ebenso gut in einem tristen Keller, im Park, am Strand oder im heimischen Wohnzimmer praktiziert werden. Der Austausch von Gedanken, Informationen und Gemütszuständen in einer Begegnungsstätte, an der man mehrere seinesgleichen vorfindet, ist zwar fruchtbarer, lebendiger und meist auch gelenkschonender als etwa ein gewöhnlicher Straßenasphalt. Aber faktisch genügen zwei „gläubige“ Seelen + der Wille Tango zu tanzen.

Eins und eins

Wo also zwei ihn miteinander tanzen, dort ist bereits eine kleine Tango-Community existent. Eine Kleinsteinheit, wenn man so will. Folgerichtig können diese zwei Menschen in dem eingehenden Gedankenspiel zweifelsohne – ohne weitere Gäste – die Milonga erfolgreich bis zum Ende stemmen, sofern sie es denn wollen, die Veranstalter nicht vorzeitig den Abend beenden oder der TDJ aus lauter Frust das Handtuch wirft. :–D

Und wenn diese beiden, gemäß den üblichen Gepflogenheiten, Tango in konzentrischen Bahnen gegen den Uhrzeigersinn tanzen, bilden sie auch fraglos eine Ronda, ungeachtet der Frage, ob diese überhaupt originär zwingend erforderlich ist. Schließlich hat die Ronda-Ordnung ihren Ursprung im Wiener Walzer, aber dies soll im vorliegenden Gedankenspiel keine Rolle spielen.

Und ich persönlich würde da noch einen Schritt weitergehen: Selbst wenn keiner der beiden Tänzer je zuvor Tango getanzt hat, könnten sie ihn folgerichtig spontan tanzen. Das hypothetische Tanzpaar tauft sich gewissermaßen gegenseitig und führt sich somit die Gemeinschaft ein bzw. begründet eine kleine Satelliten-Kommune. Denn grundsätzlich genügt es, wenn sie zur Musik gemeinsam gehen. Zwei Seelen – ein Körper – vier Beine. Einfachstes Tango-ABC. Ob sie in Zukunft tiefer in die Tangodimension eintauchen und sich ein breiteres Wissen aneignen, ist ihnen überlassen. Aber wenn sie Tango tanzen wollen und sich von der Musik getragen fühlen, sind sie zumindest für diesen Moment per definitionem Tangotänzer. Und zwar nicht mehr oder weniger als ein Meisterpaar. Mit exakt derselben Berechtigung(!), auch wenn Meistern in der Ronda aus lauter übertriebener Demut vor ihrem Können oft Vorfahrt gewährt wird oder sogar Rücksichtslosigkeiten nachgesehen wird. Dies gewährleistet die anarchistische Natur, die, wie in Teil 2 erläutert, dem Tango innewohnt.

Denn im Grunde läuft im Tango alles völlig instanzlos ab. Das ist eine Tatsache. In Abrede gestellt wird diese meist nur von anmaßenden Personen, die sich in einem besonderen Status innerhalb der Community wähnen und sich als eine tragende Säule verstehen. In Wahrheit stehen die Türen jedoch jedem jederzeit offen und zwar in beide Richtungen. Man kann eintreten und ungehindert wieder aussteigen. Tango ist keine repressive Sekte oder Ähnliches. Exkommuniziert wird da auch niemand. Und sanktioniert wird man für seinen Rückzug allenfalls durch Nicht(mehr)beachtung durch die Anderen. Kehrt man nach einer Auszeit wieder zurück, ist man in der Regel wieder willkommen. Wie ich schon im Beitrag „Milonga — Nein danke“ geschildert habe, sind Tangotänzer oft wie Kinder auf einem Spielplatz. Insofern auch nicht besonders nachtragend, was eine zeitweilige Abkehr anbelangt. Das kann ich aus eigener Erfahrung nur bestätigen.

Pflichten innerhalb der Community

Die Community ähnelt organisatorisch also dem Modell einer christlichen Glaubensgemeinschaft, die im Idealfall von Zuneigung und Nächstenliebe getragen ist oder sein sollte. Mangels echter Gottheit ist der Tango in seinen Inhalten jedoch vielmehr mit einer philosophischen Strömung zu vergleichen. Welchen Sinn und welche konkrete Werte man in ihm erblickt, wurde jedoch von keinem „Hohen Tangorat“ festgelegt. Darüber können und sollen sich die Mitglieder stets eigene Gedanken machen, um im regen Austausch miteinander den bestehenden Konsens zu wahren und nach Bedarf zu formen.

Auch wenn man mit Tango nichts zutun hat oder haben möchte, was völlig legitim ist und das Portmonnaie sowie das persönliche Zeitkonto übrigens enorm schont, so kann kann und darf niemand die kulturelle Bedeutung des Tango für die Menschheit leugnen, zumindest nicht ohne sich lächerlich zu machen. Tangomusik etwa gilt als die meistgespielte Musik des 20 Jahrhunderts. Mithin gehört Tango Argentino seit 2009 zum UNESCO Immateriellen Kulturerbe der Menschheit (Representative List of the Intangible Cultural Heritage of Humanity) und ist somit schützenswertes Kulturgut. Begründet wurde dies damit, dass er den Geist seiner Gemeinschaft auf der ganzen Welt verbreite, auch wenn er sich an neue Umgebungen und sich ändernde Zeiten anpasst.

Wenn Tangopraktizierende schon einen „Geist“ oder, um die Worte besser zu interpretieren, eine Art höhere Weisheit im Tango erblicken wollen, kann sich die Gemeinschaft nicht auf bloßes Gruppenkuscheln beschränken, sondern ist sogar zu ihrem aktiven Schutz berufen. Sonst wären Milongas beispielsweise nichts weiter als bedeutungslose und hedonistische Tanzorgien.

Liebe deinen nächsten…Tänzer!

Um also den Vergleich zur christlichen Gemeinschaft konsequent fortzuführen, ist bekanntlich Teil des göttlichen Auftrags an den einzelnen Gläubigen die Verbreitung des Evangeliums. Übertragen auf den Tango bedeutet dies, dass es die heilige Pflicht eines jeden Mitglieds ist, den Tango nicht nur heimlich und somit geizig im Verborgenen zu leben, sondern seinen Mittänzern mit Offenheit und Wohlwollen zu begegnen. In der Community geht es um gemeinsame Freude, Integration, Achtsamkeit und Solidarität. Jeder möchte gesehen und gewertschätzt werden — folgerichtig sollte niemand andere unbeachtet auf der Strecke zurücklassen. Wer nur darauf bedacht ist, seine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und sein Ego anhand der Anderen zu regulieren und aufzuwerten, agiert folglich unsozial. Sozial ist man nämlich, entgegen eines weitverbreiteten Irrtums nicht etwa, weil man so gerne in der Menschenmenge badet oder sich für seinen Tanzstil oder seine schöne Mode bewundern lässt. Dazu bedarf es weiterer Qualitäten wie Geduld, Eleganz (als innere Geisteshaltung) und Mitgefühl. Eine empathische und pflichtbewusste Tanguera registriert es beispielsweise, wenn andere Damen sich unbetanzt und enttäuscht den Hintern plattsitzen. Sofern sie mit ihrem Tanzpartner nicht liiert ist, zieht sie rechtzeitig einen Schlussstrich und gibt diesen nach zwei oder spätestens drei Tandas wieder frei. Oder anderes Beispiel: einem eleganten Tanguero ist es nicht egal, ob andere Gäste leiden; er bemüht sich, auch Anfängerinnen und Neuankömmlingen der lokalen Gemeinschaft zu integrieren, insbesondere wenn auf der Milonga sichtlich Not am Mann ist.

Ein Tänzer, der mehrere Tandas hintereinander nur mit einer und derselben Tänzerin tanzt, fällt früher oder später negativ auf und ist für mich persönlich im Grunde schon aus diesem Grund uninteressant. Völlig egal, wie gut er tanzt. Solche Egoisten haben weder Liebe (agape) im Herzen noch den Sinn von Tango verstanden bzw. verstehen wollen. Viel zu lernen sie noch haben! Leider beobachte ich in meiner Community immer wieder solche Tänzerinnen und Tänzer, die grob fahrlässig bis ignorant solche Verhaltensweisen an den Tag legen und damit negative Wellen erzeugen. Ausschließen kann man solche Mitglieder natürlich nicht, aber man kann ihr schlechtes Beispiel zumindest mit gutem ausgleichen.

Liebe ebenso deinen nächsten Nicht-Tänzer!

Das innerhalb der Community angestrebte Wohlwollen umfasst logisch auch, Nicht-Tangotänzer aktiv einzuladen, ihr Herz für diese Welt zu öffnen und sie zu interessieren. Gleichwohl aber sollte man Toleranz gegenüber Menschen an den Tag legen, die trotz einer solchen Einladung nichts mit Tango zutun haben wollen oder aufgrund von Einschränkungen nicht daran teilhaben können. Auch andere Menschen verfolgen spannende Interessen und verfügen über bewundernswerte Talente, die ein genaueres Augenmerk verdienen. Eine Frage des Respekts und der Demut.

Grundsätzlich ist es jedenfalls sinnvoll und angezeigt, wenigstens ab und zu mal den Keller oder das Wohnzimmer zu verlassen, um sich mit anderen Gläubigen oder Interessenten auszutauschen. Denn lebt man Tango nur geheim zu zweit, gibt man dessen Botschaften im Grunde nicht weiter. So erfahren die Menschen nichts von dem Glückspotenzial, welches der Tango birgt. Darüberhinaus verkäme die propagierte soziale Komponente des Tangos zu einer hohlen Phrase und ein bedeutungsvolles Kulturgut der Menschheit würde zum Aussterben verurteilt. Denn Tango lebt und stirbt folgerichtig mit seinen Anhängern.

Amen :–P

Eins mit der Musik

[Warnung: der Beitrag enthält SPOILER zum Film „Rogue One: A Star Wars Story“]

Es dauert für gewöhnlich eine ganze Weile, aber wenn man mitten im Tangoleben angekommen ist, also schon diverse Kurse und Workshops in petto hat, regelmäßig Milongas besucht und die ersten Kontakte geknüpft hat, baut man die anfänglichen Hemmungen und Unsicherheiten langsam aber sicher ab. Zumindest erging es mir so. Mit zunehmender Erfahrung plagten mich nun nicht mehr diese anfänglichen, eher banalen Sorgen, ob ich etwa gut genug tanze oder mein Outfit richtig sitzt usw. Wichtig war von nun an nur der besondere Moment, den man mit diesem einen Menschen teilt.

Obwohl ich ab diesem Entwicklungsstadium wesentlich offener und entspannter in die Begegnungen hineinging, überforderte mich manchmal die Intimität, die das Tangotanzen nunmal unweigerlich erzeugt. Diese kommt ohne große Ankündigung wie aus dem Nichts! Cabeceo – fertig – los! Irgendwie erschien und erscheint diese rasante Entwicklung unnatürlich, vor allem wenn man bedenkt, wie lange es in anderen Lebensbereichen dauert bis Menschen sich einander annähern. Beim Tango ist es anders: plötzlich findet man sich in den Armen eines Fremden wieder und das nicht selten sogar mehrmals an einem Abend. Und dann geht es auch schon unmittelbar los, dieses ständige Geben und Nehmen von Energie….Wärme….und was weiß ich nicht alles.

Damit mich diese Intimität in der Abrazo nicht zu sehr überfordert, suchte ich nach einer Art Anker. Diesen fand ich letztendlich in der Musik. Beim Tanzen genauer hinzuhören, also meine Aufmerksamkeit gezielt auf die Melodien, Rhythmus und einzelne Instrumente zu richten, brachte nicht nur meine Gedanken und Gefühle zur Ruhe, sondern leitete mich zugleich an. Um diesen geistigen Fokus bewusst einzuläuten, dachte ich mir zunächst folgendes Mantra aus:

Ich bin eins mit der Musik

Dahinter verbirgt sich offen gestanden lediglich mein Wunschdenken, meine Bewegungen zum Ausdruck der Musik werden zu lassen bzw. sie mit ihr in Einklang zu bringen ohne(!) mir dabei untreu zu werden. Nach diesem Spagat strebe ich im Tango und er ist alles andere als leicht. Es gelingt mir bislang nur selten, aber dann freue ich mich umso mehr! Denn obwohl ich schon eine zeitlang Tango tanzte, hatte ich mich mit der Musik und der Musikalität bis dato kaum befasst. Erst vor kurzem habe ich überhaupt damit begonnen. Dabei scheint die Musik der Schlüssel zum Tangohimmel zu sein. Man tanzt Tango schließlich nicht trotz der Musik, sondern gerade wegen der Musik.

Als Science-Fiction-Fan musste ich bei meinem Mantra-Entwurf zwangsläufig an ein Zitat aus „Rogue One: A Star Wars Story“ aus dem Jahr 2016 denken, nämlich an das legendäre Mantra des blinden Kriegermönchs Chirrut Îmwes (gespielt von Donnie Yen), welches übersetzt lautet: „Ich bin eins mit der Macht. Die Macht ist mit mir.“ (orig. I am one with the Force, and the Force is with me.). Von dieser Figur war ich schwer beeindruckt. Mit diesem Mantra bekannte sich der machtsensitive Mönch, welcher Mitglied des Ordens Wächter der Whills (Guardians of the Whills) war, die Macht zu kennen, zu achten und zu spüren, sich ihr hinzugeben, sich in Harmonie und Einklang mit ihr zu befinden und sich somit ihrer wohlwollenden Unterstützung jederzeit gewiss zu sein.

Diese Interpretation wird nicht zuletzt auch durch die ebenfalls von Chirrut gepredigte Langfassung gestützt „Die Macht ist mit mir. Ich bin eins mit der Macht. Und ich fürchte nichts, weil alles so ist wie die Macht es will“ (orig. The Force is with me, and I am one with the Force. And I fear nothing, because all is as the Force wills it.g). Gemäß ihrer religiösen Praxis zogen die Wächter es jedenfalls vor, die Macht und ihre Präsenz zu spüren, wohingegen im Vergleich hierzu, die Jünger der Whills (Disciples of the Whills)sich eher damit beschäftigen, ihr zuzuhören und ihren Willen zu ermitteln (Quelle: Lucasfilm Ltd. LLC, The World Disney Company. „Rogue One: A Star Wars Story“. Regie: Gareth Ewards, 2016.)

Was das mit Tango zutun hat? – Nun, die Welt des Tango Argentino ähnelt ebenfalls einem religiösen Kult und die Praktizierenden hegen nicht selten eine spirituelle Haltung zu Musik und Tanz.

Die Musik leitet den Tänzer im Grunde so an wie die Macht den gläubigen Mönch. So wie die Macht alle Materie, also alles Lebende und Nicht-Lebende bedingt, durchströmt und zusammenhält, so ist auch die Musik die unverzichtbare zentrale Kraft, die das Tanzen bzw. Tanzenwollen sowie letztendlich alles, was sich im Tango und auch zwischen den Zeilen abspielt, überhaupt kausal ermöglicht.

Motiviert durch mein obiges Wunschdenken und inspiriert von Chirruts Worte, ergänzte ich mein zweites Tangomantra und denke mir oft noch heute zu Beginn einer Tanda:

Ich bin eins mit der Musik und die Musik ist mit mir

…möge die Musik auch mit euch sein. Immer. ;–)

IV Tango ist…

Tango ist, wenn man die Freiheit hat zu tanzen mit wem man will.


Kleine Kompromisse muss man als soziales Wesen im Umgang mit der Gesellschaft oft im Alltag eingehen. Aber es gibt Bereiche des Lebens, da sollte man besser keine Abstriche machen. Zum Beispiel bei der Wahl des Lebenspartners:

Wenn man in der Liebe entgegen seiner tatsächlichen Präferenzen aus rein pragmatischen Erwägungen eine Zweckverbindung eingeht (z.B. Vernunftehe wegen finanzieller Sicherheit), dann leugnet man seine wahren Bedürfnisse. Unweigerlich quält das die eigene Seele, egal wie sehr man versucht, seine Wahl vor sich selbst oder vor anderen zu legitimieren. Meist mündet das in Überkompensation und Propaganda („Seht her, ich habe alles richtig gemacht!“)
Spätestens, wenn man sich jeden Abend zur angeblich „richtigen Wahl“ ins Bett legt, weiß man im Inneren genau, dass man an seinen wahren Träumen Lichtjahre vorbei lebt. Die Sehnsucht nach Wärme und Leidenschaft bleibt in solchen Konstellationen oft auf der Strecke. Das Ergebnis: Frust.

Im Tango ist es nicht anders als in der Liebe. Wenn man sich auf eine Tanda mit jemandem — aus welchen Gründen auch immer — einlässt, mit dem man in Wahrheit gar nicht tanzen will, zählt man die Minuten oder denkt an den morgigen Supermarkteinkauf, um die Zeit irgendwie totzuschlagen. Es quält einen und man ist froh, wenn die Tanda endlich vorbei ist.

Im Gegensatz zur Partnerwahl in der Liebe, die einen unter Umständen jahrelang oder im worst case sogar ein Leben lang begleitet, ist die falsche Wahl im Tango allerdings nicht allzu verheerend. Die Tanda ist schließlich nach ein paar Minuten wieder vorbei. Auch vom falschen Kurspartner kann man sich nach einer Testphase wieder lösen und seine Suche nach dem „perfekten Partner“ fortsetzen.
Aber dennoch ist die Verbindung ab dem Zeitpunkt der Erkenntnis irgendwie belastend.

Sitzende Tangueras

Um auch bei wichtigen Lebensentscheidungen die nötige Zuversicht aufzubringen, „Nein“ zu jemandem zu sagen oder umgekehrt nur dann „Ja“ zu sagen wo man es tatsächlich empfindet, ermutige ich andere Tangueras zu mehr Mut und Stolz. Leider folgen viele von ihnen wahllos und inflationär jeder Einladung, etwa aus Angst sitzen zu bleiben. Das Vorgehen ist nicht nur bedauernswert, da es von einem Mangel an Freiheitsgefühl und Selbstvertrauen zeugt. Nicht zuletzt verderben sie auch die „Preise“ zulasten aller Tänzerinnen.

Mit diesem Missstand sollte zum Vorteil aller Tänzerinnen und Tänzer aufgeräumt werden. Denn ist es nicht sehr viel schöner, mit dem richtigen Menschen zusammen zu sein….?

II Tango ist…

…wenn zwei völlig Fremde sich vollkommen akzeptieren, einen kurzen aber einzigartigen Moment jenseits von Raum und Zeit miteinander teilen und selbst in den Pausen zwischen den Musikstücken einer Tanda die Umarmung halten.

©KOUTAMARES

Insbesondere hier in Deutschland beobachte ich auf Milongas oft Tanzpaare, die in den Liedpausen und beim Anspielen der Cortina die Umarmung schnell und teilweise unsanft lösen, ohne dass ein nachvollziehbarer Anlass wie z.B. ein unangemessenes Verhalten eines Partners erkennbar wäre. Nein, das passiert genau genommen auch oder gerade solchen Paaren, die kurz zuvor noch sichtlich Freude mit- und aneinander hatten.

Sie töten diesen wunderbaren Moment und begraben ihn unverzüglich unter belanglosem Smalltalk und albernen Witzeleien. Bloß keine Schwäche zeigen! Die Maske will flott wieder aufgesetzt werden! Nicht dass der Andere noch bemerkt, wie sehr man gerade seine Gesellschaft genießt!

Schwäche – ist nicht vielmehr schwach, wer seine Gefühle leugnet?

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